Neues aus der Wissenschaft

 

Studie des Monats: Mai 2023

Am 26. April hat der medizinische Gutachterdienst der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) die Erteilung einer bedingten Zulassung für das Medikament Jaypirca (Pirtobrutinib), einen reversiblen, nicht-kovalenten BTK-Inhibitor, befürwortet. Bis zur endgültigen, formalen Zulassung  durch die EMA wird es wohl Juli werden - aber immerhin... (Ich verweise auf meinen im Nachhinein "prophetisch" zu nennenden Abschlusssatz der "Studie des Monats April".) Die Zulassungsempfehlung für Pirtobrutinib stützt sich auf die bereits 2021 auf dem Kongress der American Society of Hematology (ASH) vorgestellte Phase I/II BRUIN-Studie, zu der mittlerweile ein etwas längeres Follow-up vorliegt, das wir uns nun ansehen wollen.
 
Wang ML, Shah NN, Jurczak W, et al. Efficacy of Pirtobrutinib in Covalent BTK-Inhibitor Pre­Treated Relapsed / Refractory Mantle Cell Lymphoma: Additional Patients and Extended Follow-up from the Phase 1/2 BRUIN Study. Blood. 2022;140(Supplement 1):9368-9372.

Die gewöhnlicherweise aussagekräftigsten Studiendaten, nämlich die Ansprechrate (ORR: 58%) - davon vollständig (CR: 20%) - sowie der "progressionsfreie Verlauf" (PFS, 7,4 Monate) sind auf den ersten Blick gut, vielleicht nicht sensationell zu nennen  - aber es kommt hier auf eine Einordnung dieser Daten vor allem in das, sagen wir, "medikamentöse Umfeld" an. Zunächst zum Studiendesign: die BRUIN-Studie wurde durchgeführt mit 90 teilweise stark vorbehandelten MCL- Patienten mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren, die allesamt einen (kovalenten irreversiblen) BTK-Inhibitor (zumeist Ibrutinib) erhalten hatten; 82% davon waren rezidivär/refraktär, die anderen 18% hatten die Therapie mit einem BTK-Inhibitor aufgrund von Unverträglichkeit abgebrochen. Nehmen wir zunächst ausschließlich die Rezidiv-/Refraktärpatienten in den Blick: in dieser Gruppe lag die Ansprechrate auf Pirtobrutonib immerhin noch bei 50%. Das ist, natürlich, weniger hoch als in der vorherigen Behandlung mit einem kovalenten BTK-Inhibitor, aber die Studie war ja nicht als Vergleich konzipiert, sondern sollte untersuchen, ob mit Pirtobrutinib eine (deutliche) Verlängerung der Therapie mit BTK-Inhibitoren möglich ist. Und das scheint so zu sein, wenn man die (zusätzliche) durchschnittliche Ansprechdauer (DOR) von Pirtobrutinib (14,8 Monate) in dieser Patientengruppe betrachtet. Und wenn man das medikamentöse "Setting" betrachtet, in dem BTK-Inhibitoren eingesetzt werden, ist die Ansprechdauer bei Pirtobrutinib ebenso zu berücksichtigen wie die progressionsfreie Zeit, weil es oft darum geht, wie viel (Überbrückungs-)Zeit ab dem Therapieversagen kovalenter BTK-Inhibitoren für die Einleitung der Folgetherapie (zunehmend: CAR-T-Zelltherapie) bleibt. 
Ob Pirtobrutinib oder ein anderer nicht-kovalenter, reversibler BTK-Inhibitor Ibrutinib & Co. ablösen wird, also von vornherein in der Zweitlinie, später vielleicht sogar in der Ersttherapie gegeben wird, kann man, solange die Ergebnisse einer entsprechenden, z. Zt. durchgeführten Phase III-Studie zum direkten Vergleich von Pirtobrutinib mit nicht-reversiblen BTK-Inhibitoren in R/R MCL noch nicht vorliegen, nur mutmaßen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch nicht gering, dass es auf Dauer genau so kommen könnte, da zusätzlich - und das ist ein weiteres wichtiges Ergebnis der BRUIN-Studie - Pirtobrutinib deutlich besser verträglich zu sein scheint als etwa Ibrutinib: nur 3% der Pirtobrutinib-Patienten brachen ihre Teilnahme an der Studie aufgrund von Unverträglichkeiten ab. Welchen Platz nun auch immer Pirtobrutinib in künftigen Behandlungsschemata einnehmen wird, für MCL-Patienten ist das in jedem Fall eine gute Nachricht. 
 


Studie(n) des Monats: April 2023 

 

Simon Rule u.a.: Long-Term Outcomes with Ibrutinib Versus the Prior Regimen: A Pooled Analysis in Relapsed/Refractory (R/R) Mantle Cell Lymphoma (MCL) with up to 7.5 Years of Extended Follow-up 

 

Martin Dreyling u.a.: Long-term Outcomes With Ibrutinib Treatment for Patients With Relapsed/Refractory Mantle Cell Lymphoma: A Pooled Analysis of 3 Clinical Trials With Nearly 10 Years of Follow-up 


Zwei gepoolte Analysen zu dem erst seit knapp 10 Jahren zugelassenen (später dazu mehr!) BTK-Inhibitor Ibrutinib, der sich mittlerweile als Standard in der Zweitlinienbehandlung etabliert hat. Zwar zeichnen unterschiedliche Autoren (Simon Rule und Martin Dreyling) verantwortlich, aber der letztere war schon am Zustandekommen des ersten Artikels beteiligt und dem ersteren wird im zweiten Artikel für seine (frühere) Mitarbeit gedankt. Wirklich unterschiedlich ist eigentlich nur der Beobachtungszeitraum der den Analysen zugrundeliegenden Studien: er beträgt das eine Mal 7.5, das andere Mal annähernd 10 Jahre. Und erfreulicherweise bestätigen die späteren Daten den bereits vorher aufgezeigten Trend: Ein nicht unerheblicher Anteil von Patienten erreicht mit Ibrutinib eine langandauernde Remission. Tatsächlich zeigen die gepoolten Analysen, dass es (in absteigender Reihenfolge) drei Patientengruppen gibt, die in besonderer Weise, d.h. für längere Zeit, von Ibrutinib profitieren: a) Patienten, die ab Beginn der Erstlinienmedikation länger als zwei Jahre kein Rezidiv hatten ("POD >24"); b) Patienten, die eine vollständige Remission ("CR") mit Ibrutinib erreichen c) Patienten in der Zweitlinienbehandlung ("1 prior LOT", d.h. nach einem ersten Rezidiv oder dem Nicht-Ansprechen auf die Medikation in erster Linie). Wer als Patient den Gruppen a) + b) zugehört, wird mit Interesse sehen, dass für diese Fallgruppe die mittlere progressionsfreie Zeit mit Ibrutinib bei 5 Jahren liegt und dass, wie Simon Rule es ausdrücklich anmerkt, ab einer progressionsfreien Zeit von 6 Jahren ein Plateau erreicht zu sein scheint, weitere Rezidive also nicht mehr vorkommen. Die späteren Daten der 10-jährigen Nachverfolgung bestätigen das, wenngleich Martin Dreyling, etwas vorsichtiger, diesen Umstand nicht gesondert hervorhebt.
Was aber beide Metastudien betonen, ist ein Ergebnis, das eine alte Grundregel der (chemotherapeutischen) Lymphombehandlung in Frage stellt. Sie lautet: die erste Behandlung ist bei weitem die effektivste, im weiteren lässt der Behandlungserfolg deutlich nach. In diesem Sinne zeigt etwa eine Untersuchung zu MCL-Therapien aus dem Jahre 2016 (die sich auf einen Zeitraum bezieht, in dem Ibrutinib noch nicht flächendeckend eingesetzt wurde), dass die durchschnittliche progressionsfreie Zeit in der Zweit- im Vergleich zur Erstlinientherapie um 70% (14.0 Monate gegenüber 47.4 Monate) und in der Drittlinie (6.5 Monate) sogar um 86% abnahm.
Tatsächlich hat sich - und die hier besprochenen gepoolten Analysen zeigen es - Ibrutinib auch in dieser Hinsicht als ein "game changer" herausgestellt. Wurde es in der Zweitlinie verwendet, war die durchschnittliche Zeit bis zum Rezidiv in etwa genauso lang wie in der vorhergehenden Therapie. In der Untergruppe der Patienten mit Spätrezidiven ("POD >24") in der Erstbehandlung (nach durchschnittlich 42.2 Monaten) war die durchschnittliche Zeit bis zum Rezidiv unter Ibrutinib (nach durchschnittlich 57.5 Monaten) sogar deutlich verlängert.

Angesichts dieser Ergebnisse umso überraschender hat vor zwei Wochen die Food and Drug Administration (FDA), die für die Zulassung von Medikamenten zuständige US-amerikanische Behörde, Ibrutinib (nach einer beschleunigten Zulassung im Jahre 2013) die nunmehr notwendige volle Zulassung verweigert. In einer eigenwilligen Interpretation der Ergebnisse der SHINE-Studie (zum Nachlesen: Studie des Monats Januar 2023),

betont die FDA, dass sie ihre Bedenken gegenüber den nicht ganz unerheblichen Nebenwirkungen von Ibrutinib nicht ausgeräumt sieht. Ob es sich bei dieser Phase III-Studie wirklich um "mehr SHINE als Sein" handelt oder nicht - jedenfalls hat AbbVie, der Medikamentenhersteller, als Konsequenz angekündigt, Ibrutinib als Medikament für die Behandlung von r/r MCL vom amerikanischen (wichtig: nicht vom europäischen) Markt zu nehmen.
Wie muss man das als MCL-Patient lesen? Vielleicht so: mit Acalabrutinib, Zanubrutinib und Pirtobrutinib stehen bereits drei weitere BTK-Inhibitoren (jeweils mit beschleunigter Zulassung durch die FDA) auf dem US-Markt bereit, an die AbbVie kontinuierlich Marktanteile verliert. Angesichts dieser wachsenden Konkurrenz wird AbbVie keine weitere aufwendige Phase III-Studie zur Rettung der Zulassung für Ibrutinib bei r/r MCL initiieren. Denn die soeben genannten drei Medikamente sind Ibrutinib in Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mindestens ebenbürtig, wahrscheinlich sogar überlegen. 
In Europa ist die Situation eine andere. Hier steht für die Behandlung von r/r MCL im Regelfall lediglich Ibrutinib, allerdings auch im Weiteren, zur Verfügung. Weder Acalabrutinib, noch Zanubrutinib, noch Pirtobrutinib sind für die Indikation MCL bisher durch die European Medicines Agency (EMA) zugelassen. Es wäre aber langsam an der Zeit. 


Studie des Monats: März 2023

Dae Wook Kim u.a.: Chemotherapy delivery time affects treatment outcomes of female patients with diffuse large B cell lymphoma, in: JCI insight, 2023; 8 (2)

Nein, kein Irrtum: Obwohl sich diese Studie auf eine andere Lymphomart bezieht, ist sie auch für MCL-Patienten von Interesse. Das liegt daran, dass die hier untersuchte Chemoimmuntherapie, R-CHOP, gleichermaßen für die Behandlung von DLBCL und MCL, verwendet wird und hier lediglich die simple Frage beantwortet werden soll, ob die Medikation besser morgens oder nachmittags stattfinden sollte. Die kürzlich durchgeführte koreanische Studie im Überschneidungsbereich zweier medizinischer Randdisziplinen, der Chrono- und der Gendermedizin, zeigt, dass Männer und Frauen hier nicht über einen Kamm zu scheren sind. So weiß man seit Längerem, dass die Wirkung und Verträglichkeit von Chemotherapien (in je nach WIrkstoffgruppe bzw. -prinzip unterschiedlicher Weise) von der Interaktion mit dem circadianen Rhythmus auf Zellebene abhängt und dass es hierbei zusätzlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, weil einerseits Medikamente von Männern und Frauen in unterschiedlicher Geschwindigkeit verstoffwechselt werden und andererseits die Oszillationen circadianer Rhythmen bei Frauen größere Amplituden aufweisen. (Zusätzlich gibt es - bei beiden Geschlechtern - individuell voneinander abweichende circadiane Biologien, etwa von "Eulen" und "Lerchen" in Bezug auf den chronobiologisch leitenden Rhythmus, den Wach- und Schlafrhythmus.) Ein weites Feld also für Studien der Chrono- und Gendermedizin, die allerdings tendenziell unterfinanziert sind, da sie sich nur am Rande des Interesses der Pharmaindustrie an der Entwicklung und Erprobung (und Vermarktung) neuer Medikamente bewegen.
Gleichwohl lassen die Ergebnisse der Studie aufhorchen: Während bei Männern der Unterschied zwischen einer R-CHOP-Medikation morgens (8.30 Uhr) und nachmittags (14.30 Uhr) statistisch nicht ins Gewicht fiel , war er bei Frauen signifikant. Nach einer Beobachtungszeit von 60 Monaten war in der "Morgengruppe" die Sterblichkeit drastisch, nämlich sieben Mal (19,6% vs. 2,8%) und das Risiko eines Rezidivs immerhin noch 2,5 Mal höher (33,3% vs. 13,9%) als bei der "Nachmittagsgruppe". Und auch nach einer statistischen "Glättung" durch eine multivariable Analyse blieb ein eindeutige Tendenz bestehen. 
Sicherlich lässt sich einwenden, dass die verhältnismäßig geringe Teilnehmerinnenzahl an der Studie (51 Frauen in der Morgengruppe standen 36 Frauen in der Nachmittagsgruppe gegenüber) erklärt, dass es zu so erheblichen Unterschieden kommen konnte. Zudem machen die Unterschiede in Verlauf und Prognose bei DLBCL und MCL eine einfache Übertragung der Ergebnisse unmöglich. Dennoch haben die Ergebnisse der Studie einen generellen Wert für (weibliche) Lymphompatienten - jedenfalls legt die Erklärung, die die Autoren der Studie für den signifikanten Unterschied in den Ergebnissen geben, dies nahe. Denn ihre Erklärung zielt in erster Linie auf die bessere Verträglichkeit von R-CHOP bei einer Medikation am Nachmittag. Wohlgemerkt: für Frauen. Diese bessere Verträglichkeit wiederum führte nämlich dazu, dass in der "Morgengruppe", bedingt durch eine erheblich höhere Anzahl von Infektionen und neutropeniebedingtem Fieber, bei einer großen Anzahl von Patientinnen Dosisreduktionen der Medikation vorgenommen werden mussten und dies (und keine okkulte Ursachen), so mutmaßen die Autoren der Studie vermutlich zu Recht, dürfte dann auch der wesentliche Grund für die deutlich besseren Therapieergebnisse in der Vergleichsgruppe gewesen sein, in der kaum Dosisreduktionen stattfanden.
Lässt sich bereits jetzt schon praktischer Nutzen aus dieser Studie ziehen, ohne erst weitere Untersuchungen in der Sache abzuwarten? Zumindest wohl für Frauen, die sich einer Therapie mit R-CHOP unterziehen und denen ihr konkreter Behandlungszeitpunkt im Tagesverlauf egal ist. Da es keine bekannten Risikofaktoren einer Medikation am Nachmittag gibt (häufig wird dieser Zeitpunkt aus nicht-medizinischen, etwa aus beruflichen Gründen gewählt), hat man bzw. frau das Äquivalent zu dem, was in der Finanzmarkttheorie scherzhaft "free lunch" genannt wird: ein - statistisch gesehen - höherer Ertrag ohne ein damit einhergehendes gesteigertes Risiko.


Studie des Monats: Februar 2023

Mitchell R. Smith u.a.: Phase 2 Trial of First-Line Bendamustine-Rituximab-Based Induction Followed by Rituximab +/- Lenalidomide Consolidation for Mantle Cell Lymphoma (Abstract).

Bendamustin-Rituximab (BR) ist eine Standardinduktionstherapie, die insbesondere, aber nicht nur, bei älteren Patienten zur Anwendung kommt. Lange Zeit war aufgrund widersprüchlicher Studienergebnisse ungeklärt, ob nach BR-Induktion eine anschließende Rituximab-Erhaltungstherapie gegeben werden sollte - aber es scheint so, als ob sich das Pendel eher in Richtung der Befürworter neigen würde. Doch wenn man nun schon einmal dabei ist, kann man natürlich auch auf die Idee kommen, ob nicht eine intensivierte Erhaltungstherapie unter Hinzunahme von Lenalidomid noch bessere Resultate zeitigt. Unwahrscheinlich ist das zumindest nicht: Unter dem Titel R² gilt die Kombination Rituximab + Lenalidomid als eine der wenigen etablierten, wirksamen chemotherapiefreien Behandlungsmöglichkeiten. Und was für die Induktionstherapie gilt, sollte auch für die Erhaltungstherapie gelten. Doch Vorsicht: nicht alles, was plausibel ist, tritt in Wirklichkeit auch ein. Weil Studien auf Basis plausibler Annahmen zu deren Überprüfung in der Realität konstruiert werden, sind ihre Ergebnisse manchmal auch enttäuschend. So auch hier: Die Hinzufügung von Lenalidomid zu Rituximab in der Erhaltungstherapie nach R/B-Induktion in der Erstlinie führt zu keiner signifikanten Verbesserung des progressionsfreien Überlebens (Hazard Ratio LR vs. R: 0.96, d.h. eine nur um 4% höhere Wahrscheinlichkeit progressionsfreien Überlebens mit LR bis zu dem Zeitpunkt des progressionsfreien Überlebens mit R), dies aber um den Preis erhöhter Toxizität. Aber muss man über dieses Ergebnis wirklich enttäuscht sein? "Ent-täuschung" heißt doch letztlich nichts anderes, als dass man sich von einer Täuschung (einer plausiblen, aber nicht zutreffenden Annahme) befreit hat. Und auch dafür - manchmal vergisst man es - sind Studien da. Sie widerlegen Hypothesen, die man - jedenfalls in unveränderter Form - nun nicht weiter verfolgen sollte. Zugunsten neuer - zu überprüfender - Hypothesen.

Studie des Monats: Januar 2023

Michael Wang u.a.: Primary Results from the double-blind, placebo-controlled, phase III SHINE study of ibrutinib in combination with bendamustine-rituximab (BR) and R maintenance as a first-line treatment for older patients with mantle cell lymphoma (MCL).

Als Ergebnisse einer großangelegten Studie werden in dieser Kurzzusammenfassung zwar nur vorläufige Daten aus der Mitte des Jahres 2022 vorgestellt, aktuell genug aber, um mit ihnen eine Grundsatzfrage in der Onkologie anzusprechen, die sich für die MCL-Therapie in besonderer Form stellt. Es ist das Problem der Sequenzierung. Hierbei geht es um die Frage, ob eine Therapie aus der (im Idealfall einmaligen) Kombination möglichst vieler verschiedener Wirkstoffe oder aus deren sukzessiver Abfolge in aufeinanderfolgenden Therapieschritten (und dann, weitere Frage, in welcher Reihenfolge?) bestehen sollte. Da die simultane Gabe unterschiedlicher Wirkstoffe oft einen "synergetischen", d.h. einen ein- oder gegenseitig wirkstoffverstärkenden Effekt hat, galt in der Therapie von Leukämien und Lymphomen das Prinzip "Hit 'em once and hit 'em hard". Und tatsächlich lassen sich bestimmte Leukämien und Lymphome mit oft hochdosierten Kombinations-Chemotherapien ein für allemal heilen. Das Mantelzelllymphom gehört wahrscheinlich nicht dazu. Wenn hier ein Rezidiv nach einer Chemotherapie - zumindest als Regelfall - angenommen werden muss, lässt sich für den Grundsatz des "Hit 'em once and hit 'em hard" eine andere Begründung finden: Sie besteht darin, dass eine chemotherapeutische Behandlung zu mutationsbedingten Resistenzen gegen Chemotherapeutika führt, so dass Behandlungsversuche nach einem Rezidiv deutlich weniger effektiv als zuvor sind. "Simultan" ist hier also, auch wegen der bereits erwähnten ein- oder gegenseitigen Verstärkungswirkung, immer noch besser als "sukzessiv". 
Bezieht man nun aber andere, nicht-chemotherapeutische Wirkstoffe (hier: den BTK-Inhibitor Ibrutinib) in Therapieüberlegungen mit ein, liegen die Dinge weniger eindeutig. Und in dieser Perspektive relativiert sich auch das zunächst erfreulich klingende Zwischenergebnis der SHINE-Studie. Ibrutinib, zusätzlich zur Kombination von Bendamustin und Rituximab + R-Erhaltung (der Standardtherapie für ältere Patienten) gegeben, führte dazu, dass sich der mediane progressionsfreie Krankheitsverlauf (PFS) der Studienteilnehmer (im durchschnittlichen Alter von 71 Jahren) von 52,9 Monaten auf 80,6 Monate erhöhte. Immerhin ein Anstieg um über die Hälfte. Aber: das mediane Gesamtüberleben der Studienteilnehmer blieb in beiden Therapiearmen ohne signifikanten Unterschied. Zumindest hier gilt also nicht automatisch, dass "simultan" "sukzessiv" schlägt. Auch für weitere in der Studie untersuchte Parameter wurden uneindeutige Ergebnisse ausgewiesen. Die Toxizität von BR wurde durch die Hinzufügung von Ibrutinib nicht wesentlich erhöht. Die Lebensqualität war in beiden Therapiearmen gleich hoch.
Immerhin lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Addition von Ibrutinib zu BR eine weitere gangbare Therapieoption in der Erstlinienbehandlung eröffnet. Die Frage "simultan" oder "sukzessiv" wird sich aber für die Behandlung des Mantelzelllymphoms wohl erst unter Einbezug zusätzlicher Substanzen bzw. neuer Therapieformen (etwa: BCL-2-Inhibitoren, ROR1-Inhibitoren, CAR-T-Zelltherapien, BiTEs) klären lassen.


Studie(n) des Monats: Dezember 2022

Jia Ruan, John P. Leonard et al.: Acalabrutinib-Lenalidomide-Rituximab (ALR) with Real-Time Monitoring of MRD in Patients with Treatment-Naive Mantle Cell Lymphoma (Abstract).
Diese Phase-2-Studie, deren Ergebnisse am 10. Dezember auf dem ASH 2022 präsentiert werden, stellt einen neueren Versuch dar, eine chemotherapiefreie Erstlinienbehandlung zu etablieren. Hierzu wird ein bereits bewährter Therapieansatz (Rituximab+Lenalidomid) zusätzlich mit einem BTK-Inhibitor kombiniert. Und zumindest auf den ersten Blick lassen sich die Ergebnisse am Ende eines zweieinhalbjährigen Untersuchungszeitraums sehen: bei akzeptabler Toxizität sind 100% progressionsfreies und 100% Gesamt-Überleben nicht zu überbieten. Gibt es hier einen Haken?
Zwar ist die Studie mit 24 Teilnehmern nicht sehr umfangreich (wie alle Phase-2-Studien) - aber immerhin sind die Teilnehmer keineswegs, weder nach Durchschnittsalter noch Risikoprofil, "handverlesen". Was die Studie (noch) nicht klären kann, ist die Frage, wie langanhaltend die erzielten Remissionen sind bzw. sein werden. Und, ebenso wichtig, ob nach einem Rezidiv therapeutische Optionen bestehen, mit denen das durchschnittliche Gesamtüberleben der  "Standard-of-care-Patienten" (Induktion mit Cytarabin enthaltender Chemotherapie, danach autologe Stammzelltransplantation, Rituximab als Erhaltungstherapie) übertroffen wird.

Einen etwas längeren Untersuchungszeitraum und eine etwas höhere Teilnehmerzahl hat die Studie von  Eva Giné u.a. "Ibrutinib in Combination with Rituximab for Indolent Clinical Forms of Mantle Cell Lymphoma" (4/2022).
Auch hier werden ähnlich gute Ergebnisse erzielt, allerdings, wie der Titel der Studie schon anzeigt, bei einer ausgewählten Patientengruppe mit indolentem Verlauf. In der Untergruppe der (indolenten) Patienten mit geringen oder mittleren Risikofaktoren liegt deren progressionsfreier Verlauf selbst nach 5 Jahren noch bei 100%. Doch so gut diese Ergebnisse sind, so schwierig ist es, sie eindeutig zu bewerten. Und das liegt in diesem Fall zusätzlich daran, dass der Vergleich gegenüber dem "standard of care" keineswegs eindeutig positiv ausfällt. Betrachtet man dort nämlich gesondert (auch) nur die Patienten mit niedrigem Risikoprofil, beträgt deren durchschnittliche progressionsfreie Zeit - je nach Studie variierend - bis zu 15 Jahren. Langzeitüberleben oder gar Heilung? Folgen wir einem der ausgewiesenen klinischen Experten für MCL, Michael Wang (18.08.22 auf Twitter): "After consultation of many senior lymphoma experts whose clinic has long-term survivors, if MCL goes into a complete remission for 15 years, relapse is rarely heard of, one may cautiously say this might be a cure." Fast zu schön, um wahr zu sein... Aber angesichts solcher Verheißungen will man natürlich möglichst sicher sein, dass eine chemotherapiefreie Behandlung auch gleichen Erfolg erzielt.

In einer umfangreichen Phase-3-Studie ("TRIANGLE"), deren Ergebnisse am 11. Dezember auf dem ASH 2022 vorgestellt werden, geht es zwar (noch) nicht um eine chemotherapiefreie Therapie, aber doch um einen nicht zu unterschätzenden Schritt in diese Richtung.
M. Dreyling u.a.: "Efficacy and Safety of Ibrutinib Combined with Standard First-Line Treatment or as Substitute for Autologous Stem Cell Transplantation in Younger Patients with Mantle Cell Lymphoma" (Abstract).
Auch hier wird ein BTK-Inhibitor in der Erstlinie untersucht. Im Unterschied zu den beiden vorher genannten Studien wird Ibrutinib aber im ersten Arm der Studie mit Chemotherapie (R-CHOP/R-DHAP) kombiniert und anschließend - zusammen mit Rituximab - als Erhaltungsdosis gegeben. Um es vorwegzunehmen: dieser Ansatz schlägt sich gegenüber den jeweils Chemotherapie und Stammzelltransplantation enthaltenden zwei weiteren Studienarmen erfolgreich. Und es ist deshalb wohl davon auszugehen, dass Ibrutinib + Immunchemotherapie (etwa R-CHOP/R-DHAP) + R/I-Erhaltungstherapie aufgrund der geringeren Toxizität demnächst Immunchemotherapie + autologe Stammzelltransplantation + R-Erhaltungstherapie als Standardtherapie ablösen dürfte. [Nachtrag vom 2.2.2023: Und so wird es wohl auch tatsächlich kommen. Noch steht eine offizielle Publikation der Studie, die Übernahme in die offiziellen Richtlinien und eine Zulassung durch die EMA aus - aber schon jetzt ist klar: hier handelt es sich um einen "game changer". (Podcast: BTK-Inhibition vs. HD-Therapie beim Mantelzelllymphom. Peter Borchmann im Gespräch mit Martin Dreyling.)] 

Ob in einigen Jahren chemotherapiereduzierte oder gar -freie Behandlungsansätze, wohl in jedem Fall in der Minimalkombination eines BTK-Hemmers und eines monoklonalen Antikörpers (etwa: Ibrutinib/Obinituzumab +), zumindest für bestimmte Patientengruppen ein tragfähiges Behandlungsangebot in der Erstlinie darstellen werden, harrt jedoch weiterer UntersuchungStudie

Studie(n) des Monats: November 2022

Sogenannte "Real-World-Studien" werden - meist länderspezifisch - aus national verfügbaren Datenbanken retrospektiv erstellt. Das unterscheidet sie von "akademischen" - oft auch pharmazieindustriefinanzierten - Studien, die gewöhnlicherweise etwas bessere Ergebnisse liefern, etwa weil die medizinische Betreuung umfangreicher ist, die Teilnehmer einer gewissen Auswahl unterliegen und tendenziell kooperativer sind. Das Interesse "akademischer Studien" ist oft auf eine eng umrissene Fragestellung gerichtet - die ganz allgemeine Frage nach der durchschnittlichen Überlebenszeit mit MCL gehört nicht dazu und kann tatsächlich wohl am ehesten durch "Real-World-Studien" beantwortet werden, auch wenn die hier verfügbaren Datensätze in Teilen unvollständig sind.

Exemplarisch stellen wir die folgende neuere Studie zur Lebenserwartung mit MCL vor: "Evaluating real-world treatment patterns and outcomes of mantle cell lymphoma" von M. Narkhede u.a. (Juli 2022).
Sie bezieht sich auf den Verlauf von mehr als 4000 zwischen 2011-2021 in den USA diagnostizierten MCL-Fällen und richtet ihr Augenmerk vor allem auf Unterschiede im Verlauf von "klassischem MCL" und aggressiveren Varianten (blastisches MCL sowie MCL mit del 17p/mut TP53). Greifen wir zwei Ergebnisse der Studie als Grundlage für weitere Überlegungen heraus: Die mediane Überlebenszeit betrug für MCL-Fälle mit del 17p/mut TP53 42 Monate, für blastisches MCL 26 Monate, in der Kombination beider sogar nur 16 Monate. Demgegenüber lag die mediane Überlebenszeit der Fälle ohne del 17p/mut TP53 bei 75 Monaten, die der nicht-blastischen Fälle bei 80 Monaten. Die mediane Überlebenszeit für die MCL-Fälle ohne die beiden genannten Hochrisikofaktoren wird in der Studie nicht gesondert erwähnt, dürfte jedoch (extrapoliert) bei ca. 84 Monaten, d.h. sieben Jahren, liegen. Aber sehen wir noch einmal genauer hin.
Es fällt auf, dass im verwendeten Datenmaterial der Prozentsatz  der 17p/mut TP53 Varianten (5%) an den MCL-Fällen deutlich niedriger liegt als in vergleichbaren akademischen Studien. Tatsächlich sind bei einem Großteil der Fälle aus dem zugrundeliegenden Datenbestand die entsprechenden differenzierenden Untersuchungen (NGS/FISH) überhaupt nicht vorgenommen worden, mit der Konsequenz, eine nicht unerhebliche Menge unidentifizierter (Hoch-)risikofälle der "falschen" Gruppe zuzuschlagen. Hierzu passt auch, dass die "pleomorphe Variante" (3% der Fälle) mit einem der "blastischen Variante" vergleichbaren Risikoprofil in der vorgenommenen Unterteilung einfach als "nicht-blastisch" gewertet wird. Man kann also davon ausgehen, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der "Normalvariante" und Risikovarianten höher ist als in der Studie angegeben.
Aufgrund der eingeschränkten Datenverfügbarkeit ist die Studie auch nicht in der Lage, zwischen "overall survival" und "relative survival" zu unterscheiden. Das "overall survival" (OS) stellt das Überleben dem Tod aus beliebiger Ursache gegenüber, für das "relative survival" (RS) sind nur Todesursachen relevant, die direkt mit der Grunderkrankung (hier: MCL) zusammenhängen. Dieser Unterschied spielt im jüngeren Lebensalter statistisch kaum eine Rolle, bei einer Krankheit wie dem Mantelzelllymphom, wo der Altersschnitt zum Zeitpunkt der Diagnose um die 65 Jahre liegt, schon.. Wenn Studien aber nur das "overall survival" messen, wird "Alter" - ganz krankheitsunabhängig - zu einem der größten Risikofaktoren. Will oder kann man auf das "overall survival" als Endpunkt einer Studie nicht verzichten, würde eine aussagekräftigere Lösung darin bestehen, nach Alter zu differenzieren. Entsprechende Unterteilungen liegen aber für die besprochene Studie leider nicht vor.
Um nur einen Eindruck davon zu geben, wie sich eine Altersdifferenzierung auf die mediane Überlebenszeit auswirkt, greife ich auf eine etwas ältere akademische Studie aus dem Jahre 2019 mit 404 Patienten zurück ("Patterns of survival in patients with recurrent mantle cell lymphoma in the modern era" (6/2019 von Anita Kumar u.a.). Hier wurde retrospektiv die mediane Überlebenszeit (OS) für Patienten unter 65 Jahren bei Diagnosestellung ermittelt. Dabei betrug diese im Fall von Therapien, die (autologe) Stammzelltransplantationen miteinschlossen, 165 Monate und im Mittel aller anderen Therapieformen immerhin noch 120 Monate.
Angemerkt sei lediglich noch, dass die Bezeichnung "modern era" angesichts des Untersuchungszeitraums dieser soeben genannten Studie (2000-2014) etwas euphemistisch wirkt. Bis auf den Einsatz von Rituximab und Stammzelltransplantationen fehlten in dieser Zeit noch nahezu alle heute verfügbaren Mittel aus dem Werkzeugkasten der MCL-Therapie - angefangen mit Rituximab in der Erhaltungstherapie, dem Einsatz von BTK- und BCL-2-Hemmern, von BiTEs oder CAR-T-Zelltherapien. Diese Fortschritte haben sich denn auch im jüngeren Untersuchungszeitraum der "Real-World-Studie" bereits deutlich niedergeschlagen, wenn man die immer wieder zitierte durchschnittliche Überlebenszeit bei MCL von 3-5 Jahren als historischen, d.h. veralteten Bezugspunkt nimmt. Eine Aufschlüsselung nach Alter bei Diagnosestellung hätte die im letzten Jahrzehnt erzielten Fortschritte allerdings noch eindrucksvoller herausstellen können.