Neues aus der Wissenschaft
Studien des Monats (2025):
Januar: Neues zur Vitamin-D-Supplementierung
Studien des Monats (2024):
Dezember: Lebenserwartung nach Therapieerfolg | November: 'Fake News' zu TP53mut-MCL | Oktober: intermittierende Behandlung mit Ibrutinib | September: ärztliche Kompetenzdefizite in der MCL-Behandlung | August: BTK-Degrader | Juli: TP53-Mutationen | Juni: Obinutuzumab vs. Rituximab | Mai: blastisches MCL | April: allogene Transplantation | März: Vitamin D | Februar: BAFF-R-CAR-T-Zelltherapie | Januar: Sport in der Lymphomtherapie
Studien des Monats (2023):
Dezember: watch and wait | November: BiTEs | Oktober: neue chemotherapiefreie Optionen
September: Rituximab-Erhaltung | August: ZNS-Befall | Juli: alternative BTK-Inhibitoren |
Juni: Rituximab/Bendamustin/Cytarabin | Mai: Pirtobrutinib | April: Ibrutinib-Langzeitstudien
März: Chronomedizin | Februar: Lenalidomid-Erhaltung | Januar: BR + Ibrutinib
Studien des Monats (2022):
Dezember: chemotherapiefreie Optionen | November: Überlebenszeit in "Real-Life-Studien"
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Studie des Monats: Januar 2025
Alle Jahre wieder... gibt es Neues zu medizinischen Wirkungen der Einnahme von Vitamin D. Und warum sollten wir nicht unter den ersten sein, die davon erfahren?
Ausgehend von der durch Studien gesicherten Beobachtung, dass bei lymphoproliferativen Erkrankungen Patienten mit einem erniedrigten Vitamin-D-Spiegel eine schlechtere Prognose haben, ergibt sich ja fast zwangsläufig die Überlegung, ob man nicht einfach durch eine Vitamin-D-Supplementierung deren Überlebenschancen verbessern könnte.
Obwohl plausibel, ist es nun aber keinesweg sicher, dass es sich wirklich so verhält, da es ja sehr gut sein kann, dass ein niedriger Vitamin D-Spiegel einfach nur ein Marker für einen eventuell aggressiveren Krankheitsverlauf oder Komorbidität ist (vgl. Studie des Monats: März 2024).
Weil nun aber eine Vitamin D-Supplementierung so leicht (und kostengünstig) machbar wäre, sollte man an dieser Stelle für jedes Licht, dass ins Dunkle gebracht wird, dankbar sein.
Obwohl sich vieles an hierzu Veröffentlichtem auf der Ebene anekdotischer Evidenz bewegt oder auf unbewiesenen Analogieschlüssen und bloßen Mutmaßungen basiert, findet sich doch ab und zu auch eine seriöse Studie zum Thema. Leider ist man aber nach deren Lektüre oft nur wenig klüger als zuvor. Das hängt mit einem altbekannten Problem zusammen: die Durchführung einer randomisierten, prospektiven Studie ist eine vergleichsweise teure Angelegenheit und daher werden die meisten dieser 'klassischen' Studien durch Pharmakonzerne finanziert, die diese Studien als Investitionen in auf sie möglicherweise folgende Medikamentenzulassungen sehen. Vitamin-D-Präparate sind in diesem Zusammenhang aber nicht profitabel genug (und vor allem nicht durch Patente geschützt), um das Profitinteresse der Pharmakonzerne an der Durchführung einer prospektiven Studie zu wecken. Daher sind die meisten Studien zur Wirkung von Vitamin-D-Präparaten retrospektive Beobachtungsstudien. So auch die kürzlich erschienene folgende:
Tamar Tadmor, Guy Melamed et al.,
Die Studie hat zunächst einen Vorteil: sie ist verhältnismäßig spezifisch angelegt. Sie beschränkt sich auf eine bestimmte Lymphomart, nämlich CLL (deren Behandlung große Gemeinsamkeiten mit der Therapie bei MCL aufweist) und auf zwei Gruppen von "watch-and-wait-Patienten", die entweder mit Vitamin D supplementiert wurden oder nicht. Die umfangreichen Daten aus den Jahren 2000-2022, auf die die Studie sich stützt, stammen aus dem Register von Maccabi Healthcare Services, des zweitgrößten israelischen Krankenversicherers. Das erstaunt zunächst, da Israel durch seine südmediterrane Lage kein ausgesprochenes Vitamin-D-Mangelgebiet ist. (So hatten auch nur etwa 5% der Studienteilnehmer einen Vitamin-D-Spiegel unterhalb des Normwerts.) Und ebenfalls erstaunlich ist, dass in den beiden Vergleichsgruppen in etwa der gleiche durchschnittliche Vitamin-D-Spiegel bei Diagnose gemessen wurde. Man hätte erwartet, dass der Ausgangswert bei den Patienten, die im Folgenden eine Supplementierung erhielten, niedriger gewesen wäre. Hierdurch aber verschiebt sich der Fokus der Studie: es geht jetzt nicht mehr nur darum, zu untersuchen, ob sich die Prognose von Patienten mit Vitamin-D-Defizit durch Supplementierung verbessert. Vitamin-D wird nun wie ein niedrigschwelliges Medikament (für jeden!) betrachtet, das in einer speziellen Konstellation zum Einsatz kommt, nämlich um bei "watch-and-wait-Patienten" den Beginn der Erstbehandlung hinauszuzögern. Mit dieser Perspektive nähme Vitamin-D-Supplementierung bei CLL - und vielleicht ja auch bei MCL - eine Rolle ein, wie sie etwa eine regelmäßige Rituximab-Gabe bei "watch- and-wait" Patienten mit Follikulärem Lymphom hat.
Formal gesprochen geht es den Autoren in der Studie also um die Wirkung einer Vitamin-D-Monotherapie in der Erstbehandlung bei CLL, appliziert als regelmäßig verabreichte Erhaltungsdosis ohne vorherige Induktion.
Eine ansatzweise Begründung für diese Sichtweise auf Vitamin D als ein (vielleicht nicht allzu starkes, aber immerhin wirksames) Arzneimittel, die die Autoren auch nennen, könnte sich in dem aus der Forschung nahegelegten Umstand finden, dass in vitro verabreichte pharmakologische Dosen von Vitamin-D-Derivaten an der Apoptose von B-Zellen beteiligt zu sein scheinen, indem sie Caspase 3- und 9-abhängige Signalwege induzieren. Die Autoren erwähnen zudem, dass B-Zellen bei CLL im Vergleich zu normalen B-Zellen eine höhere Expression des Vitamin-D-Rezeptors aufweisen, was auf eine Rolle bei der Regulierung kritischer Signalwege der CLL-Proliferation hindeuten könnte. (Es bleibt allerdings unklar, ob dieser Umstand in gleichem Maße auf MCL zutrifft.) Hier gäbe es jedenfalls dringenden weiteren Forschungsbedarf, wenn man wissenschaftliche Erkenntnis nicht als die Summe beobachteter Korrelationen missverstehen will, wo doch ihre eigentliche Aufgabe - mit den Worten Aristoteles' - darin liegt, "Gründe anzugeben". Es schadet nicht, das immer wieder einmal zu erwähnen...
Doch sei's drum: um zuallererst zu sondieren, ob überhaupt weiterer Begründungsbedarf vonnöten ist, richten wir unser Augenmerk jetzt auf die Ergebnisse der Beobachtungsstudie zum 'niedrigschwelligen Medikament' Vitamin D bei "watch-and-wait"-Patienten mit CLL.
Von den 3474 Patienten, die in die Studie aufgenommen wurden, erhielten 931 Patienten (26,8 %) eine Dosis Vitamin D oder ein Äquivalent für einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten. Die Vitamin-D-Supplementierung war statistisch signifikant für ein längeres "time to first treatment" (TTFT) in der jüngeren Kohorte (Alter ≤65 Jahre) und ließ sich auch mit einem erheblich längeren "treatment free survival' (TFS) für alle Altersgruppen in Verbindung bringen. Bei denjenigen, die kein Vitamin D einnahmen, lag das mittlere TFS bei sieben Jahren, während das mittlere TFS derjenigen, die Vitamin D einnahmen, sich auf 14 Jahre verdoppelte.
Die Autoren wirken selbst etwas hilflos, angesichts möglicher Konsequenzen aus ihrer Studie, deren Ergebnisse unkommentiert einfach 'zu schön sind, um wahr zu sein'. Liegt der Haken etwa schon im Studiendesign? Zunächst scheint es so. Die Autoren benennen deutliche Diskrepanzen zwischen den beiden Gruppen (Vitamin D +/-), die aus dem Umstand resultieren, dass es sich hier nicht um eine prospektive Studie handelte (in der ja Gruppen vorab so aufgeteilt werden, dass ihre Voraussetzungen mehr oder weniger übereinstimmen). Manchmal sind zwar auch bei retrospektiven Beobachtungsstudien die Vergleichsgruppen durch glücklichen Zufall einander in wesentlichen Merkmalen ähnlich. In unserem Fall lässt sich aber ein signifikanter Unterschied in der Geschlechtsverteilung, im Altersschnitt und in mehreren gesundheitlich relevanten Merkmalen bei Diagnose zwischen den beiden Gruppen aufzeigen - die nur beim Alter zuungunsten der Vitamin D- exponierten Gruppe ausschlagen. Doch diese Diskrepanzen werden, so jedenfalls die Autoren, in den Ergebnissen der Studie bereits berücksichtigt.
Tatsächlich gibt es verschiedene anerkannte statistische Verfahren, mittels deren diese Unterschiede 'verrechnet' werden können - wieweit es den Autoren aber tatsächlich gelungen ist, die Verteilung der Störvariablen zwischen der Vitamin D-exponierten und der nicht exponierten Gruppe rechnerisch befriedigend auszugleichen, bleibt unklar. Auch ist unklar, ob die in Studien dieser Art, in denen die Vergleichsgruppen nicht von Anfang an bestehen (da es ja ausreicht, irgendwann im Untersuchungszeitraum sechs Monate lang Vitamin D einzunehmen, um dann dieser Gruppe zugerechnet zu werden), die daraus resultierende "Unsterblichkeitsverzerrung" ("immortal time bias") angemessen korrigiert wurde. (Wer auch immer stirbt, bevor er Gruppe der Vitamin-D-Exponierten zugeschlagen werden konnte, er kann, statistisch gesehen, nur 'zum Nachteil' des TFS der Nicht-Exponierten sterben). Immerhin wurde die Studie in einer anerkannten Zeitschrift publiziert, was dafür spricht, dass Ergebnisse nicht einfach ungeprüft übernommen wurden. Und die Autoren überprüften zusätzlich mittels einer weiteren untersuchten Variablen, nämlich der Einnahme von Vitamin C (+/-), den naheliegenden Einwand, dass Vitamin-D-Supplementierung mit einem 'gesundheitsbewussteren Lebensstil' zusammenhängen könnte. (Diese Vermutung bestätigte sich übrigens nicht.)
Allerdings ist schon der Ansatz dieser Studie mit der aus Registerdaten vorgenommenen Unterteilung in Vitamin D-Exponierte (+/-) aufgrund ärztlicher Verschreibung fraglich. Da die 'Nicht-Vitamin-D-Exponierten' im Nachhinein nicht mehr befragt werden konnten, ist es durchaus möglich, dass ein erheblicher Teil von ihnen ebenfalls Vitamin-D-Präparate einnahm, die es ja auch frei verfügbar, ohne ärztliche Verschreibung, gibt. Gingen wir genau hiervon aus, dürfte sich das für die mit Vitamin D supplementierte Gruppe angegebene verdoppelte TFS deutlich relativieren.
Bleibt also unterm Strich nicht mehr als ein Achselzucken? Oder sollte man Vitamin D nicht doch - vorsichtshalber - supplementieren? Immerhin könnte man zur pragmatischen Beantwortung dieser Frage auf einen 'Nebenbefund' der Studie hinweisen: die durchschnittliche (und offenkundig wirksame) Vitamin-D-Dosis der exponierten Gruppe ließ sich mit 200-600 I.E. täglich als sehr moderat bezeichnen. Und ergänzend kommt eine (in anderer Hinsicht allerdings weniger hilfreiche, da zu breit angelegte) Studie der Mayo-Klinik zur Supplementierung bei Vitamin D-Mangelzuständen bei B-Zell-Lymphomen zu dem Ergebnis, dass eine bessere Bioverfügbarkeit mit niedriger täglicher als bei wöchentlicher hoher Einmaldosis erreicht wird. Vielleicht könnte man sich daher mit folgendem Gedankengang behelfen: was, regelmäßig gering dosiert, nicht schadet, hilft zwar allein dadurch noch nicht - wenn eine Vitamin-D-Supplementierung in anderer Hinsicht aber (und sei's durch Placebowirkung) das Gefühl stärkt, selbstwirksam und verantwortungsvoll mit seiner Krankheit umzugehen, hätte man damit jedenfalls nichts Grundsätzliches falsch gemacht. Und neben einer höheren Selbstzufriedenheit - wer weiß - vielleicht auch ein wenig zusätzliche Zeit gewonnen.
Studie des Monats: Dezember 2024
Oft als Zufallsdiagnose ohne konkrete gesundheitliche Einschränkungen ist das Mantelzelllymphom eine Krankheit, die man zunächst einmal hat. Erst dadurch, dass man erfährt, dass MCL zwar behandelbar ist, aber als 'unheilbar' gilt, wird es zu einer Krankheit, an der man leidet, weil man - über die vage Gewissheit des "wir müssen alle irgendwann einmal sterben" hinaus - seinen Zukunftshorizont so unvermittelt und radikal beschnitten sieht.
Naheliegend deshalb, zumindest wissen zu wollen, wieviel Zeit einem voraussichtlich noch bleibt. Das sogenannte "overall survival", die gemittelte Überlebenszeit nach Diagnose oder nach Therapie ist ein Thema, das 'Mantelzeller' in besonderem Maße umtreibt.
Obwohl die individuelle Lebenserwartung von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird, ist die Grunderkrankung MCL ein gewichtigerer Faktor der Lebenszeitverkürzung als, sagen wir, das Risiko, von einer Straßenbahn überfahren zu werden. Schon ein versuchsweiser Blick ins Internet unter dem Suchbegriff "Mantelzelllymphom" bestätigt diese Vermutung. Allerdings führt er auch dazu, zu dieser Frage mehr und andere Informationen zu bekommen, als man eigentlich haben wollte.
Auf unterschiedlichen Websites wird die voraussichtliche Lebenserwartung eines 'Mantelzellers' aktuell - je nach Quelle - mit einer Zeitspanne von 2-3 Jahren, 3-5 Jahren oder 5-7 Jahren angegeben.
Aus mehreren Gründen sind diese Zeitangaben irreführend. Zunächst schon aus dem einfachen logischen Grund, dass nicht alle zugleich wahr sein können. (Tatsächlich ist es keine von ihnen. Für einen genaueren Überblick in diesem Zusammenhang verweise ich auf die "Studie des Monats: November 2022"). Dann aus dem Umstand heraus, dass die angegebenen Zeitspannen den Eindruck erwecken, dass es sich hier um ein "wenigstens dies bis höchstens das" oder um eine Zeitangabe für jedenfalls den allergrößten Teil der Fälle handelt (so ist es nicht!). Schließlich ist in die genannten Zahlen auch das Versterben "aus anderen Gründen" (so wie der zuvor erwähnte Straßenbahnunfall oder die sogenannte "natürliche Todesursache") miteingerechnet - und damit (weil MCL statistisch eine Krankheit des höheren Alters ist) auch der Umstand, dass man oft mit, aber nicht am Mantelzelllymphom stirbt - woraus übrigens auch folgt, dass die Lebenserwartung (sowohl ohne als auch mit MCL) im Alter automatisch abnimmt. Hat man als 60-jähriger frisch diagnostizierter 'Mantelzeller' ein durchschnittliches Gesamtüberleben von 10-15 Jahren, ist das bei einer Diagnose mit 90 Jahren schon von vornherein nicht mehr zu erwarten.
An diese Überlegung anknüpfend stellen wir nun eine Frage, auf die, wie wir in der Vorstellung unserer "Studie des Monats" sehen werden, eine optimistische Antwort erhalten: Gibt es so etwas wie eine maximale Überlebenszeit bei MCL, die sich auch durch eine Therapie nicht verlängert (aber jedenfalls erreicht werden kann) - oder bedeutet eine erfolgreiche Therapie, dass ich durch sie noch Jahre 'oben drauf' bekomme?
Linmiao Jiang, Martin Dreyling et al.,
Conditional survival of younger patients with mantle cell lymphoma: Results from a randomized phase III trial of the European MCL Network, in: British Journal of Haematology, first published 23 October 2024
In dieser Studie wird nach dem Überleben unter bestimmten Bedingungen ("conditional survival") gefragt - und hierbei geht es zunächst darum, wie die unter bestimmten Erstlinientherapien (R-CHOP vs. R-CHOP/R-DHAP) verstrichene progressionsfreie Zeit das ab diesem Zeitpunkt noch zu erwartende "overall survival" (OS2) beeinflusst.
Nicht unerwartet, galt unabhängig von der gewählten Therapieform: Patienten mit Therapieversagen hatten eine deutlich schlechtere Überlebensrate als Patienten in anhaltender Remission, unabhängig von der überstandenen Zeit. Aber je länger die Patienten in Remission blieben, desto länger blieben sie auch frei von Rezidiven.
Und interessanterweise gab es einen ähnlichen Effekt, wenn man nicht nur das progressionsfreie Überleben der Patienten als Ausgangspunkt nahm, sondern allein das Überleben 'an sich'. Dabei zeigte sich allerdings ein Unterschied zwischen R-CHOP- und R-CHOP/R-DHAP-Patienten. R-CHOP-Patienten hatten eine (ab diesem Zeitpunkt gemessene) zunehmende Überlebensrate, je länger sie überlebten (72% fünfjähriges OS2 nach einem Jahr, aber 81% nach sieben Jahren). Die R-CHOP/R-DHAP-Patienten hingegen wiesen eine stabile Überlebensrate im Laufe der Zeit auf (fünfjähriges OS2 von 77% und 78%).
Hiermit konsistent, nahm der prognostische Wert des Mantle Cell Lymphoma International Prognostic Index (MIPI) bei R-CHOP-Patienten nach 3 Jahren ab, blieb nach R-CHOP/R-DHAP hingegen unverändert. Man könnte das so interpretieren, als ob eine genetisch ungünstige Ausgangslage durch eine härtere Therapie (R-CHOP/R-DHAP) überdeckt wird (ohne grundsätzlich aufgehoben werden zu können).
Ohne damit den Behandlungsgrundsatz "hohes Risiko = harte Therapie" grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, könnte man höchstens in der Linie einer interventionistischen Diagnostik à la Dr. House argumentieren, dass diejenigen, die mit einem hohen Risikoscore bei einer vergleichsweise weniger harten Chemoimmuntherapie (trotzdem) drei und mehr Jahre überleben, sich mit einer zunehmenden Sicherheit als ursprünglich falsch eingestuft herausstellen. In diesem Sonderfall gälte also: Glück gehabt. Gewöhnlich jedoch bestätigt der Verlauf unter einer vergleichsweise 'milden' Chemoimmuntherapie die ursprüngliche Risikoeinstufung. Denn das Leben ist nicht gerecht und MCL untersteht dieser Kategorie ebenfalls nicht. Hier gilt - und die Studie zeigt es: Wer hat, dem wird gegeben und wer wenig hat, der muss viel tun, damit ihm nicht auch das noch genommen wird.
Um damit - nun in etwas optimistischerer Sicht - auf unsere ursprüngliche Frage zurückzukommen: Es gibt keine festgelegte Anzahl von Jahren für das Gesamtüberleben ab Diagnose. Vielmehr gilt: Je weiter die Ersttherapie trägt, desto mehr Jahre insgesamt sind zu erwarten.
Eine offene Frage bleibt, ob es sich bei indolenten "wait and watch"-Fällen als 'Ersttherapie' ebenso verhält. Die von uns besprochene Studie sagt dazu nichts. Umso wichtiger wäre es, auch in dieser Patientengruppe auf statistisch aufbereitete Daten zum "conditional survival" zurückgreifen zu können. Auf von Pharmaunternehmen initiierte Studien kann man aus naheliegenden Gründe dabei nicht hoffen. Der Aufbau eines europäischen MCL-Registers, das sich z.Zt. unter anderem auf indolente Krankheitsverläufe fokussiert, gibt aber gerade in dieser Hinsicht Anlass zur Hoffnung. Bis hier allerdings genügende, und damit auch valide auswertbare Daten vorliegen, bleibt für "watch-and-wait"-Patienten nur die per Analogie zu anderen bereits untersuchten Behandlungsverläufen sich aufdrängende Hypothese, dass eine günstige Prognose im Normalfall auch einen günstigen Verlauf nach sich zieht. Je länger, desto gewisser. Aber ganz sicher weiß man das eben (noch) nicht.
Möglicherweise wäre deshalb bis zur empirisch gestützten Klärung des Sachverhalts die Frage nach der Lebenserwartung versuchsweise im genitivus subjectivus zu stellen: als gewissermaßen 'philosophische' Frage danach, was ich vom Leben (noch) erwarte. Denn in der Antwort auf diese Frage ist der wissenschaftliche Fortschritt ohne Bedeutung. Welche Lebenserwartung ich, so gesehen, habe, kann sinnvoll jeder nur für sich beantworten.
Studie des Monats: November 2024
Zeitgleich mit den US-amerikanischen Wahlen wurden am 5.11., wahrscheinlich dem wichtigsten Termin im hämatologischen Jahreslauf, die gespannt erwarteten Abstracts zum Kongress der American Society of Hematology (ASH) freigeschaltet. Kaum eine nennenswerte 'blutige Neuerung', die dort, 2024 in San Diego, nicht präsentiert würde. Wenn auch der eigentliche Kongresstermin erst Anfang Dezember liegt, bieten die vorab schon in Kurzform veröffentlichten etwa 100 Vorträge, Poster und Lehrmaterialien alleine zu MCL eine ganz gute Orientierung über den Stand der Forschung.
Doch auch wenn die Börsenkurse der an den veröffentlichten Studien beteiligten Pharmaunternehmen am 5.11. und in den Wochen danach teilweise heftige Ausschläge verzeichnen - vieles davon ist nichts anderes als Spekulation im Vorgriff, die sich im Nachhinein als heiße Luft herausstellt. Sensationen gibt es seltener, als man sie erhofft. Viele Studien etwa haben schon Zwischenergebnisse im laufenden Jahr veröffentlicht - wenn sie auch in manchen Fällen noch mit "late breaking abstracts" aufwarten. Manchmal lohnt es sich tatsächlich, darauf zu warten, oft aber hat man im Endeffekt nur "mehr desselben". Und sicherlich bietet ein Kongressbesuch in persona optimierte Information (sowie Austausch und Diskussion) - doch sei man als 'einfacher Mantelzeller' getröstet: mit den freigeschalteten Abstracts zum 5.11. sieht man bereits das Wichtigste. Allerdings gilt hier eine wichtige Einschränkung: Wer sich durch die zahllosen veröffentlichten Studien klickt, muss - damit ebenfalls eine Parallele zum US-Wahlkampf - lernen und damit leben, wünschenswert Neues von schlicht Dubiosem zu unterscheiden. Auch im Reich der Wissenschaft gibt es "fake news". Und einen Detektor dafür liefert die Selbstbeantwortung der folgenden Frage: Klingt da etwas zu schön, um wahr zu sein?
Hier haben wir so einen Fall: eine Real-Life-
Studie zu MCL mit und ohne TP-53-Mutationen.
Jie Wang, Jihao Zhou et al., Real World First-Line Treatment Strategies and Outcomes in TP53 Mutated and Unmutated Mantle Cell Lymphoma (Abstract)
Der datengespickte Text ist verhältnismäßig unübersichtlich gestaltet und deshalb stellen wir zur Strukturierung der weiteren Lektüre zunächst eine Leitfrage: Worum - soweit man das der Kurzzusammenfassung entnehmen kann - geht es der Studie eigentlich? Tatsächlich ist es schwer, hier einen roten Faden zu finden. Immerhin fallen einem zwei von den Autoren getroffene Aussagen ins Auge: Die Lebenserwartung von Patienten mit TP-53-Mutationen ist im historischen Vergleich gestiegen (richtig!) und trotzdem ist es ziemlich egal, welche Therapie man wählt (historisch zumindest zweifelhaft - und seit wenigen Jahren: falsch!).
Normalerweise bin ich ja etwas zurückhaltender in meinen Kommentaren, aber gegenüber jeder, also auch dieser Studie, die ihre Ergebnisse mehr oder weniger unausgesprochen als wertfreies Auslesen von Registerdaten ("Fakten! Fakten! Fakten!") präsentiert, muss man doch zuallererst an die lateinische Herkunft des Wortes erinnern: "factum" heisst: "das (von Menschen) Hergestellte". Und da Menschen bestimmte Absichten haben, sind mehr oder weniger willkürlich aus dem Kontext gerissene vorgebliche "bloße Fakten" oft nichts anderes als (der gleichen Wortwurzel entstammender) "Fake". So auch hier.
Schon zu Beginn des Textes fallen einem zwei Zahlenangaben ins Auge, die das klassische Kriterium der Fake News ("zu schön - oder zu sensationell - um wahr zu sein") ohne weiteres erfüllen. Zunächst nämlich wird die durchschnittliche Lebenserwartung eines MCL-Erkrankten ohne TP-53-Mutation auf 14,2 Jahre und auf 8,3 Jahre bei einer TP-53-Mutation beziffert und dabei wird darauf hingewiesen, dass diese aus Studien und Real-World-Krankheitsverläufen gewonnene Daten für Patienten mit TP-53-Mutationen (in jüngerer Zeit) deutlich besser als im historischen Schnitt sind (was aber für die unmutierten MCL-Fälle ebenfalls zutrifft - und was allein an der Auswahl der Daten liegt).
Spätestens ein Abgleich mit neueren Real-Life-Studien (vgl. etwa die "Studie des Monats: November 2022) lässt jedoch am Ausmaß der behaupteten Steigerung im Gesamtüberleben ("overall survival" = OS) zweifeln - zumal im Artikel unmittelbar folgend erwähnt wird, dass die durchschnittliche progressionsfreie Zeit (PFS) in der Erstlinie nur 2 Jahre für unmutiertes und lediglich 0,95 Jahre für TP-53 mutiertes MCL beträgt. Ein dubioser und unerklärt bleibender Kontrast zwischen PFS und OS, der vermuten lassen muss, dass hier unterschiedliche Datensätze ausgewertet wurden. Ein OS von 14,2 bzw. 8,3 Jahren kann sich tatsächlich nur auf ausgewählte neuere Studien mit jüngeren Patienten beziehen. Dass diese nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Patienten mit MCL sind, liegt wiederum am Fokus, den die Autoren des Artikels voreingestellt haben: es werden von vornherein nur Studien bzw. Krankheitsverläufe einbezogen, in denen die Teilnehmer tatsächlich auf TP-53-Mutationen untersucht wurden. Das aber ist im nennenswerten Maße erst seit ca. 20 Jahren der Fall. (Dass die Autoren angeben, Daten von 1/1993 - 1/2024 zu berücksichtigen, ist daher eine ebenso irreführende Information wie der angeführte Ausschluss - tatsächlich extrem selten vorkommender - MCL-Erkrankter unter 18 Jahren.) Irrelevantes wird hier in undurchschaubarem Maße mit Wesentlichem vermengt.
Gleichwohl - das alles ist immerhin noch, sagen wir: naja. Im Weiteren jedoch wird es wirklich heikel.
Der Artikel schlüsselt jetzt nämlich den Behandlungserfolg der TP-53-mut-Fälle nach Behandlungsmodalitäten auf und kommt zu Ergebnissen, die man zunächst wiederum nur staunend zur Kenntnis nehmen kann. 14,4 Jahre soll der mediane OS bei Erstlinienbehandlung von TP-53 mutierten Fällen mit BTK-Inhibitoren sein. (Tatsächlich haben BTK-Inhibitoren die Behandlung von TP-53-mut-MCL deutlich verbessert. Aber nicht in diesem Ausmaß. Das zeigt schon die 5-Jahres- Überlebenswahrscheinlichkeit, die für eine Erstlinienbehandlung mit BTKi im nächsten Absatz des Textes mit nur 57% angegeben wird. Oder irre ich mich etwa? Sollten wirklich nicht mehr als weitere 7% der TP-53-mut-Patienten innerhalb der folgenden 9,4 Jahren versterben?) Die von den Autoren angegebene Zahl klingt schon deshalb unglaubwürdig, weil BTK-Inhibitoren bei MCL überhaupt erst seit 11 Jahren eingesetzt wurden (und zunächst auch nur im Rezidiv bzw. bei refraktären Patienten). Aber tatsächlich behilft man sich in Studien mit neuen Medikamenten, in denen noch keine vollständigen Überlebensdaten vorliegen, mit 'Vorausschätzungen' (d.h. Überlebenswahrscheinlichkeiten) anhand einer standardisierten Methode (Kaplan-Meier). Und vielleicht wird die relativ neue Behandlung mit Chemoimmuntherapie + BTK-Inhibitor in der Erstlinie ja der Behandlungsmodalität "BTK-Inhibitor" zugeordnet. Wer weiß das schon. Aus dem vorliegenden Abstract geht es jedenfalls nicht eindeutig hervor. Doch selbst dann bliebe ein OS von 14,4 Jahren für TP-53-mut-MCL noch eine, sagen wir: ambitionierte Hausnummer.
Insofern kann man an diesem konkreten Fall nur bestaunen, was ein großzügiger Umgang mit statistischen Daten so alles vermag. (Ich gehe tatsächlich davon aus, dass es sich bei den Studienergebnissen weder um das Resultat von Programmierungsfehlern beim automatisierten Auslesen von Daten, noch um Schreib- oder Übersetzungsfehler im Text handelt.) Vermutlich war die Patientenanzahl in den herangezogenen Studien zur Therapie mit BTK-Inhibitoren in der Erstlinie viel zu gering - denn immerhin wird von den Autoren darauf hingewiesen, dass es sich bei den ermittelten 14,4 Jahren um keinen statistisch signifikanten Unterschied gegenüber dem Gesamtüberleben von 8,8 Jahren bei Chemoimmuntherapien und 6,8 Jahren bei sonstigen chemotherapiefreien Behandlungsoptionen handeln soll.
Eigentlich müsste man spätestens hier zu dem Schluss kommen, dass auf Basis einer so wackeligen Stat(ist)ik ein valider Vergleich gar nicht möglich ist. Stattdessen heißt es lapidar (und überraschend): "In der Gruppe mit TP53-Mutation gab es keine Unterschiede in den klinischen Ergebnissen zwischen den Patienten, die mit Chemoimmuntherapie, ohne Chemotherapie oder BTKi in der Erstlinie behandelt wurden". Das widerspricht zwar der neueren Forschung - mag in der historischen Perspektive aber noch einigermaßen zu belegen sein, wenn man den rasanten Fortschritt in der Therapie von Tp-53-mut-MCL in den letzten Jahren unterschlägt. So wurden möglicherweise die Ergebnisse relativ wirksamer neuer Kombinationstherapien mit BTK-Inhibitoren in der Erstlinie nicht angemessen berücksichtigt; vielleicht wurden auch relevante Unterschiede in den Patientengruppen ungewichtet gelassen. Vor allem aber wurde unterschlagen, dass, wenn nach einer nur kurzfristigen und kaum 'erfolgreich' zu nennenden Chemoimmuntherapie in der Erstlinie der eigentliche Behandlungserfolg in den darauffolgenden Therapielinien zustandekam, dieser statistisch der "1L Chemoimmuntherapie" zugutekam.
Wie auch immer - und ob die Autoren darauf hinaus wollten oder nicht (denn natürlich ist ihnen bewusst, dass sich das Behandlungsparadigma für TP53-mut-MCL in den letzten Jahren verändert hat) - der fatale Eindruck beim Leser bleibt: bei Chemoimmuntherapie scheint es sich um eine erfolgreiche Erstlinientherapie für TP-53-mutiertes MCL zu handeln.
Angesichts genügend neuerer Studien, die für die Gegenwart das Gegenteil belegen, kann man ironisch dazu wohl nur anmerken, dass die immer noch erfolgreichste Erstlinienbehandlung eine schlecht aufbereitete, aber gut verkaufte Statistik ist.
Gerade deshalb gilt wissenschaftstheoretisch eben nicht nur, dass eine plausible Hypothese empirisch (d.h. mit Daten) belegt werden muss, sondern auch, dass diese empirischen Daten einer Überprüfung auf sinnvolle Kontextualisierung standhalten können müssen. In dieser Real-Life-Studie ist das nicht der Fall.
Und so erklärt sich die Schieflage, die - ohne dass im Einzelnen wirklich Falsches behauptet wird - das Abstract letztlich zu "Fake News" werden lässt: irgendetwas daran stimmt schon - nur eben nicht in Gänze und auch nicht so. Ein medianes Gesamtüberleben bei TP-53-Mutation von immerhin 8,8 Jahren bei Chemoimmuntherapien in Erstlinie ist "zu schön, um wahr zu sein" - aber passt immerhin zu dem, was man hören will oder vom Arzt seines Vertrauens hört. Denn ärgerlicherweise gibt es ja immer noch genug behandelnde Onkologen, die einem weismachen wollen, dass eine Chemoimmuntherapie auch bei einer TP-53-Mutation die einzig sinnvolle Option sei. Am besten noch mit anschließender Konsolidierung und autologer Stammzelltransplantation. Und das angesichts einer progressionsfreien Zeit von im Schnitt gerade einmal 0,95 Jahren (!), um auf die im Abstract selbst genannte Zahl zurückzugreifen.
Nun werden in der Liste der insgesamt 39 erwähnten Koautoren des Artikels immerhin einige vertrauenswürdige Namen genannt. (Vermutlich haben sie lediglich der Verwendung von Registerdaten aus ihrer jeweiligen Institution zugestimmt.) Aber vielleicht fragen Sie sich ja doch weiterhin, ob nicht eine Chemoimmuntherapie (ohne Einbezug von BTK-Inhibitoren) die beste Erstlinientherapie bei einem TP-53-mutierten MCL wäre. (Nein! Lesen Sie die Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes in der "Studie des Monats: Juli 2024").
Sonst haken Sie jedenfalls kritisch nach. Auf dem ASH, am Montag, den 9. Dezember 2024, von 18.00-20.00 (Ortszeit) hätten Sie bei der ausführlichen Vorstellung der Studienergebnisse die Gelegenheit dazu.
Genau so gut vermutlich können Sie sich aber schon mit einem kurzen Plausibilitätscheck nach der Lektüre dieses Artikels die Ausgaben für einen Hin- und Rückflug nach San Diego sparen. Jedenfalls, wenn Sie nicht ohnehin dorthin wollten.
Studie(n) des Monats: Oktober 2024
Der erstmalige Einsatz von Ibrutinib im Jahre 2013 war ein Meilenstein in der Therapie des Mantelzelllymphoms. Heute, 10 Jahre später, sind BTK-Inhibitoren aus der MCL-Therapie nicht mehr wegzudenken - und das nicht nur als Behandlung im Rezidiv. Seit Veröffentlichung der TRIANGLE-Studie vor zwei Jahren hat Chemotherapie+Ibrutinib das bis dahin übliche Chemotherapie+ASCT als Erstlinienstandard abgelöst. Zwar haben sich BTK-Inhibitoren nicht als Wundermittel zur endgültigen Heilung von MCL erwiesen, weil bisher noch kein Mittel gefunden wurde, eine Resistenzbildung durch Mutation unter Therapie wirksam und dauerhaft zu verhindern - dennoch haben immer wieder neuentwickelte BTK-Inhibitoren und neuerdings auch BTK-Degrader (vgl. "Studie des Monats: August 2024") das therapeutische Arsenal erweitert, um diesen Mutationsbildungen entgegenzuwirken. Ebenso wurden für eine verbesserte Wirkung zahllose Medikamentenkombinationen mit BTK- Inhibitoren ausprobiert, von denen (neben den schon lange verwendeten Rituximab und Lenalidomid insbesondere BCL2-Inhibitoren ("Venetoclax") und demnächst wohl auch monoklonale ROR1-Antikörper ("Zilovertamab") zum Einsatz kommen. Auch die Kombination mit BiTEs und CAR-T-Zelltherapien wird mittlerweile erwogen.
Dennoch gibt es etliche Nachteile beim Einsatz von BTK-Inhibitoren. Insbesondere Ibrutinib hat ein nicht unproblematisches Nebenwirkungsprofil, das viele Patienten dazu zwingt, im Laufe der Behandlung die Medikamentendosis zu reduzieren, auf einen anderen BTK-Hemmer umzusteigen oder die Behandlung mit dieser Medikamentenklasse ganz abzubrechen. Doch warum ist man bisher noch nicht auf die Idee gekommen, in diesem Fall (oder sogar, wie wir im weiteren besprechen werden, grundsätzlich) 'Behandlungspausen' einzulegen?
Wir werden uns mit dieser eigentlich so naheliegenden Überlegung beschäftigen und sie daraufhin befragen, ob sie mehr als eine Scheinlösung anbieten kann. Tatsächlich vertritt man mit dem von uns in den Blick genommenen Ansatz einer "intermittierenden Dosierung" therapeutisches Neuland. BTK-Inhibitoren werden in der Regel kontinuierlich verabreicht, um ein Fortschreiten der Krankheit zu verhindern und aufgetretene Symptome wirksam zu behandeln. Die Möglichkeit, eine MCL-Behandlung mit BTK-Hemmern zwischenzeitlich (und evtl. auch immer wieder neu) zu unterbrechen, ist bisher schlicht und einfach noch nicht ausreichend systematisch erforscht. Aber es gibt einige Hinweise darauf, dass dieser Ansatz zumindest nicht abwegig ist.
Immerhin zeigen die Erfahrungen aus der IMCL 2015-GELTAMO-Studie (Ibrutinib+ Rituximab) bei Patienten mit indolenter Erkrankung, dass ein Absetzen der Behandlung mit Ibrutinib nach zwei Jahren bei MRD-Negativität prinzipiell möglich ist (vgl. "Studie des Monats: Dezember 2023"). Doch wie verhält es sich mit der Möglichkeit einer Wiederaufnahme der Behandlung mit Ibrutinib im Rezidiv? Könnten die Ergebnisse der Studie nicht als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass eine von vornherein geplante intermittierende Behandlung in manchen Fällen eine ähnliche Krankheitskontrolle bieten könnte wie eine kontinuierliche Verabreichung?
Doch um welche Fälle geht es hier? Die IMCL 2015-GELTAMO-Studie untersuchte einen Behandlungsstopp nur für MCL-Patienten mit indolenten Verläufen nach zwei Jahren bei MRD-Negativität und gibt so lediglich eine vorläufige empirische Antwort auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt eine Unterbrechung der kontinuierlichen Ibrutinib-Therapie sinnvoll erwogen werden kann. Das bloße Auftreten von Unverträglichkeiten unter der Behandlung wäre es wohl nicht. Zwar böte es ein nachvollziehbares Motiv, aber keinen sicheren Ausgangspunkt für eine Behandlungspause, weil das Risiko eines Wiederaufflackerns der Krankheit besteht, das für vorübergehende 'ungeplante' Unterbrechungen der Ibrutinib-Therapie tatsächlich gut dokumentiert ist. Es liegt daher nahe, dass man sich für eine in Folge auch wirksame intermittierende Behandlung eher am bisher erreichten Behandlungserfolg orientieren sollte. Zumindest indirekt und vorläufig bestätigt eine kürzlich veröffentlichte Studie unsere Überlegungen:
Sasanka M. Handunnetti, Christiane Pott et al., Seven-year outcomes of venetoclax-ibrutinib therapy in mantle cell lymphoma: durable responses and treatment-free remissions, in: Blood (2024) 144 (8): 867-872.
In diesem aktualisierten Bericht über die Ergebnisse der mittlerweile sieben Jahre laufenden AIM-Studie heben die Autoren den langfristigen Nutzen und die Ergebnisse einer Protokolländerung hervor, die es Patienten mit Komplettremission und zusätzlich bestätigter (MRD)-negativer Komplettremission im Knochenmark (bei immerhin 62% der Studienteilnehmer) ermöglichte, die Erhaltungstherapie mit Ibrutinib nach einer vorher mindestens einjährigen Kombinationsbehandlung (Ibrutinib+Venetoclax) zu beenden. Diese Patienten wurden sorgfältig auf ein Fortschreiten der Erkrankung überwacht, wobei die "minimal residual disease"-Negativität mittels Durchflusszytometrie des peripheren Blutes monatlich kontrolliert wurde.
Acht Patienten traten im Median nach 23 Monaten in eine von ihnen gewählte Therapieunterbrechung ein, obwohl die meisten viel früher eine Komplettremission mit nicht nachweisbarer Resterkrankung erreichten. Bei diesen acht Patienten mit im Median vier vorangegangenen Therapielinien handelte es sich um eine relativ risikoreiche Gruppe, die zu 50% einen hohen Wert im Mantlecelllymphoma-International-Prognostic-Index (MIPI) aufwies. Interessanterweise waren die Patienten im Median 58 Monate in Remission, wobei vier von ihnen (von denen zwei TP53-Veränderungen aufwiesen) schließlich einen Progress erlitten. Von diesen vier Patienten konnten drei die Behandlung wieder aufnehmen, wobei zwei von ihnen (beide mit TP53-Veränderungen) schnell ein zweites vollständiges Ansprechen erreichten. Die Autoren kommen aufgrund dieser Daten zu dem Schluss, dass es für eine intermittierende Anwendung von Ibrutinib tatsächlich einen zusätzlichen klinischen Nutzen im Vergleich zu einer kontinuierlichen Anwendung gibt. Diese Ergebnisse zeigen, dass eine auf BTK- und BCL2-Inhibitoren basierende, anschließende Erhaltungstherapie mit Ibrutinib, die Behandlungspausen und gegebenenfalls eine Wiederaufnahmestrategie einschließt, bei MCL prinzipiell machbar ist.
Vergleicht man zusätzlich noch die Ergebnisse von zwei ähnlichen Studien für Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem MCL, die die Kombination von Ibrutinib und Venetoclax erhielten ("AIM" und "SYMPATICO" - in der die Möglichkeit einer intermittierenden Behandlung nicht existierte) - unter allen Vorbehalten, die sich aus dem Vergleich von zwei unterschiedlichen Studien ergeben, und unter Berücksichtigung der relativ kleinen Anzahl von Patienten, die in AIM intermittierend behandelt wurden, zeigen die Teilnehmer beider Studien doch ein ähnliches durchschnittliches progressionsfreies Überleben, was ebenfalls darauf hindeutet, dass Behandlungsunterbrechungen in dieser Population nicht zu einer schlechteren Wirksamkeit führen.
Gleichwohl: die Datenlage zu der von uns aufgeworfenen Frage ist bisher relativ dünn. Sie dürfte durch die Ergebnisse der folgenden laufenden Studie entscheidend verbessert werden:
"Testing Continuous Versus Intermittent Treatment With the Study Drug Zanubrutinib for Older Patients With Previously Untreated Mantle Cell Lymphoma"
ClinicalTrials.gov ID NCT05976763
Die Selbstbeschreibung dieser Studie fasst noch einmal die von uns angesprochene Problemlage zusammen:
"In dieser Phase-III-Studie wird untersucht, ob eine kontinuierliche oder intermittierende Behandlung mit Zanubrutinib nach Erreichen einer kompletten Remission (CR) mit Rituximab bei älteren erwachsenen Patienten mit Mantelzell-Lymphom (MCL), die in der Vergangenheit keine Behandlung erhalten haben, funktioniert. [...] Wenn Zanubrutinib bei MCL eingesetzt wird, besteht der derzeitige Behandlungsstandard darin, das Medikament bis zum Fortschreiten der Krankheit auf unbestimmte Zeit weiter zu verabreichen. Diese kontinuierliche Behandlung ist mit klinischer und finanzieller Toxizität verbunden, was sich insbesondere bei älteren Patienten als nachteilig erweisen kann. Bei Patienten, die nach der Erstbehandlung mit Zanubrutinib plus Rituximab eine CR erreichen, kann es sicher und ebenso wirksam sein, die Behandlung zu beenden und Zanubrutinib bei Fortschreiten der Krankheit erneut zu verabreichen, anstatt sie bei zuvor unbehandelten älteren erwachsenen Patienten mit MCL unbegrenzt fortzusetzen."
Die Laufzeit der Studie ist bis 2038 angesetzt und ihr primäres Ziel ist es, zu überprüfen, ob es bei einer intermittierenden Behandlung zu einer Verringerung der Wirksamkeit des Medikaments kommt. Vermutlich, aber auch das wird empirisch überprüft werden, geht eine intermittierende Behandlung mit einer Verringerung von Nebenwirkungen und einer Erhöhung der Lebensqualität einher.
Man könnte an dieser Stelle noch anfügen, dass im Langzeitvergleich vermutlich auch eine Verringerung der Häufigkeit sekundärer Krebserkrankungen beobachtet werden dürfte. Und schließlich, da die Studie in den USA durchgeführt wird, darf natürlich auch der Hinweis auf eine geringere finanzielle Belastung (für nicht oder nicht ausreichend Versicherte) nicht fehlen.
Doch interessanterweise wird in dieser Studie (und überhaupt in der bisherigen bruchstückhaften Diskussion der Problematik einer unbegrenzt fortlaufenden Erhaltungstherapie mit BTK-Inhibitoren) ein zentraler Punkt zumindest nicht explizit angesprochen: die Problematik der unter kontinuierlich fortgesetzten Therapie nahezu zwangsläufig (und vor allem: relativ bald) auftretenden Resistenzmutationen.
Wenn sich eine ausreichende Wirksamkeit intermittierender Behandlung feststellen lassen sollte, könnte ihr verblüffendes Ergebnis sein, dass Resistenzmutationen deutlich später auftreten - also nicht eine "Verringerung der Wirksamkeit des Medikaments" eintritt, sondern - im Gegenteil - dessen Unwirksamkeit (unter Umständen deutlich) hinausgezögert wird. Wäre dies der Fall, ergäbe sich eine Anschlussfragestellung:
Ist erst eine MRD-Negativität der richtige Zeitpunkt für eine Unterbrechung kontinuierlicher Behandlung mit BTK-Inhibitoren (wie in der AIM-Studie) oder bereits eine durch CT oder PET-CT nachgewiesene Vollremission (wie in der Studie mit Zanubrutinib) oder reicht - im Extremfall - bereits die Abwesenheit eines klinisch bedeutsamen Progresses (wie im "watch and wait")?
Leider, wie schon gesagt, sind abschließende Antworten aus der laufenden Studie erst im Jahre 2038 zu erwarten. Wer etwa mit der Frage konfrontiert wird, ob er aufgrund von Unverträglichkeiten eine eigentlich wirksame Behandlung mit BTK-Inhibitoren abbrechen soll, kann so lange schwerlich warten.
Was wäre unsere Empfehlung für die Vorgehensweise in einem solchen Fall? Vielleicht einfacher als gedacht: Sollte man zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vollremission erlangt haben, geht man mit einem Aussetzen der Behandlung und einer Wiederaufnahme bei erneutem Progress zumindest kein größeres Risiko ein als in der laufenden Studie - zumindest dann, wenn man (wie in der Studie) den Erfolg intermittierender Dosierung regelmäßig und sorgfältig überwachen lässt.
Studie des Monats: September 2024
Tatsächlich gibt es etwas, das für Mantelzelllymphompatienten fast noch wichtiger ist als neue Medikamente. Es ist die Wahl des richtigen Arztes. Doch das ist natürlich leichter gesagt als getan. Denn woran soll man ihn erkennen?
Das nächstliegende und scheinbar einzig relevante Kriterium, medizinische Fachkenntnis, ist für Laien ja schwer zu beurteilen und die mittlerweile mit Hilfe des Internets durchaus ausfindig zu machenden Koryphäen sind - gewöhnlicherweise proportional zu ihrem Bekanntheitsgrad - mehr oder weniger überbeschäftigt. Eine wirkliche Lösung für dieses Dilemma gibt es nicht.
Wir wollen deshalb die überraschende Frage stellen, ob es vielleicht von vornherein keine gute Idee ist, nach dem 'besten Arzt' zu suchen? Unter anderem auch deshalb, weil diese Suche zwei kostbare Ressourcen verschlingt, die nach einer MCL-Diagnose gewöhnlich knapp sind: Zeit und Nerven.
Für eine realistischere Vorgehensweise schlage ich deshalb in Anlehnung an eine Begriffsprägung Winnicotts den Begriff des "good enough doctor" vor. Ein Arzt, der Vertrauen verdient, muss nicht notwendig herausragend, er muss - subjektiv gesehen - nur 'gut genug' sein. Vereinfachend ausgedrückt: er muss zum Patienten passen.
Ein Arzt, der 'gut genug' ist, kann an bestimmten Merkmalen erkannt werden:
- er erklärt für den Patienten in verständlicher Sprache
- er geht auf Fragen und Bedenken des Patienten ein
- er berücksichtigt Labor-, CT/MRT- und Arztberichte
- er weiß, wenn er etwas nicht weiß und erkundigt sich in diesen Fällen in der Literatur oder bei Kollegen über den aktuellen Forschungsstand; mindestens zieht er die aktuellen Leitlinien zu Rate
- er schlägt dem Patienten vor, eine Zweitmeinung einzuholen oder überweist zu einem Spezialisten
-er ändert seine Meinung aufgrund einer veränderten Sachlage oder neuer Forschungsergebnisse
- er hat neben der Lebenserwartung auch die Lebensqualität des Patienten im Blick
'Gut genug' ist ein Arzt also vor allem durch seine 'sekundären', vom Patienten subjektiv wahrgenommene und beurteilte Qualitäten. Dennoch gibt es natürlich auch objektivierbare Kriterien, die in der Behandlung von MCL-Patienten beachtet werden sollten.
Einige davon nimmt die folgende Studie in den Blick und - wie man schon ahnt - zeigen sich hier überraschende Kompetenzprobleme.
Florence Cymbalista, Martin Dreyling and Nirav N. Shah et al., Knowledge, skills, and confidence gaps impacting treatment decision making in relapsed/refractory chronic lymphocytic leukemia and mantle cell lymphoma: a quantitative survey study in France, Germany, and the United States, in: BMC Cancer, volume 24, article number 1003 (2024).
Die Studie wurde in Frankreich, Deutschland und den USA durchgeführt. (Im länderspezifischen Vergleich wurden allerdings keine entscheidenden Unterschiede in den Ergebnissen festgestellt.)
Zunächst einmal fällt auf, dass diese Studie ihren Schwerpunkt in einem Umfeld hat, das mit der Behandlung von CLL und MCL scheinbar bestens vertraut ist. Das ist eine Stärke und Schwäche der Studie zugleich. Eine Schwäche deshalb, weil damit nur ein Teil der Behandlungsrealität abgebildet wird. Zwar war eine der (sinnvollen) Voraussetzungen für die Teilnahme an der Studie die Behandlung von mindestens zwei Mantelzelllymphompatienten im letzten Jahr. Im Durchschnitt der teilnehmenden Ärzte waren es dann aber tatsächlich über 40 Patienten in den letzten zwei Jahren (die Autoren der Studien äußern allerdings Zweifel an diesen Zahlen aufgrund vermuteter Fehlmeldungen) und zwar ausdrücklich auch im von der Studie so benannten "nicht-akademischen" Umfeld (etwa: onkologische Praxen, kommunale Krankenhäuser).
Gerade in diesem Umfeld aber sieht die Behandlungsrealität für MCL-Patienten anders aus. Sie sind für die meisten Ärzte 'exotische' Fälle. Von daher verwundert es auch nicht, dass in Bezug auf MCL - im Vergleich zu CLL - größere Lücken im Wissen über Richtlinien und Fähigkeiten bei der Patientenbeurteilung festgestellt wurden. (Es ist die deutlich seltenere Erkrankung.)
Sei's drum. Denn das Ergebnis der Studie ist gerade aufgrund ihrer nicht-repräsentativen Verzerrung umso eindrücklicher. Eigentlich sollte man - wenn man die von den Studienteilnehmern rückgemeldeten Patientenzahlen überhaupt als realistisch ansehen will - bei Ärzten, die jede Woche mindestens einen Mantelzelllymphompatienten in ihrer Praxis sehen (wenn man zwei Arztbesuche pro Patient im Jahr zugrunde legt), von außergewöhnlichen Kompetenzen und einem aktuellem Kenntnisstand in der MCL-Behandlung ausgehen. Überraschenderweise verhält es sich jedoch nicht so. Und in diesem Ergebnis liegt auch die Stärke dieser Studie. Sie zeigt, dass selbst in einem Umfeld, dem man außergewöhnliche Kompetenzen unterstellt, immerhin noch ein Viertel der Ärzte zum Teil deutliche Fehlentscheidungen trifft. Dabei muss man bedenken, dass Teilnehmende an der Studie vermutlich noch die kompetenteren oder zumindest die interessierteren und in ihren Auskünften auch selbstkritischeren Ärzte waren. Von daher macht die Studie lediglich 'die Spitze des Eisbergs' in der Behandlungsrealität für MCL-Patienten sichtbar. Viele Patienten kommen niemals in ein 'akademisches Behandlungszentrum' (in Deutschland gewöhnlicherweise in ein Universitätskrankenhaus). In den meisten Fällen überweist der diagnosestellende Arzt an eine Praxis für hämatologisch-onkologische Erkrankungen oder an das nächstgelegene onkologische Zentrum. Auch wenn es dort keine ausreichende Erfahrung in der MCL-Therapie gibt und oft nicht einmal adäquates Wissen darüber, hindert das die behandelnden Ärzte in vielen Fällen keineswegs daran, sich die fehlende Erfahrung 'auf eigene Faust' anzueignen - nicht unbedingt zum Wohle des Patienten.
Zurück zu den Ergebnissen der Studie:
Über die Hälfte der deutschen Ärzte im "nicht-akademischen Behandlungsumfeld" gaben an, fehlendes oder suboptimales Wissen über die Bedeutung von del17p und/oder TP53-Mutationen für die Behandlungsplanung zu haben, ein Viertel kannte die aktuellen deutschen Behandlungsleitlinien nicht oder nur ungenügend. Das zeigte sich etwa darin, dass bei Patienten mit Herzproblemen oder Blutungsneigung kein geeigneterer BTK-Inhibitor (als Ibrutinib), bei Progression unter Ibrutinib aber ein weiterer kovalenter BTK empfohlen wurde - konkrete, in der Studie genannte Beispiele für
- eine suboptimale Kenntnis der Behandlungsrichtlinien
- eine suboptimale Kenntnis molekularer Tests, die für CLL/MCL-Behandlungsentscheidungen von Bedeutung sind
- suboptimale Fähigkeiten bei der Entscheidungsfindung für eine an den Patienten angepasste Behandlung (Komorbiditäten, molekulare Testergebnisse)
- Schwierigkeiten bei der Abwägung des Toxizitätsrisikos mit den Vorteilen der Behandlung.
Ganz allgemein gaben über ein Drittel der Befragten Kompetenzdefizite bei der Auswahl geeigneter Behandlungsoptionen und der Verschreibung von Therapien an, die mit einem mangelnden Selbstvertrauen bei der Auswahl, dem Zeitpunkt der Einleitung und der Durchführung der Behandlung einher gingen.
Die Autoren der Studie empfehlen zur Behebung der festgestellten Defizite Verbesserungen in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung, insbesondere unter Einbeziehung von Fallbeispielen.
Doch was können MCL-Patienten, was kann die MCL-Selbsthilfe angesichts der in der Studie offengelegten ärztlichen Kompetenzdefizite tun? Eine alternative Aneignung und Vermittlung von Spezialkenntnissen 'auf eigene Faust' halten wir ohne medizinische Vorbildung nicht für zielführend. (Wir empfehlen allerdings, unabhängig vom konkreten Fall, mindestens die Einholung einer Zweitmeinung aus einem Netzwerk anerkannter MCL-Spezialisten, gewöhnlicherweise in einem Universitätskrankenhaus.) Mindestens ebenso wichtig aber erscheint es uns - durch Vermittlung persönlicher Kontakte und Erfahrungsaustausch - die Wahrnehmungsfähigkeit des Patienten zu stärken, um ihn selbst die Frage beantworten zu lassen: Ist mein behandelnder Arzt ein "good enough doctor"?
Studie des Monats: August 2024
Ebenso wie zur Jahrtausendwende der monoklonale CD20-Antikörper Rituximab war zehn Jahre später der BTK-Inhibitor Ibrutinib in der Behandlung des Mantelzelllymphoms ein "game changer".
Ibrutinib war der erste BTK-Inhibitor, der 2014 von der Europäischen Kommission für MCL zugelassen wurde. Es folgten, bisher allerdings nur in den USA zugelassen (eine Zulassung in der EU wird gegen Ende des Jahres erwartet), die selektiveren und dadurch verträglicheren "BTK-Inhibitoren der zweiten Generation", Acalabrutinib und Zanubrutinib. All diese BTK-Inhibitoren werden entweder als Monotherapie oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen verwendet.
Die erste Euphorie über die tatsächlich beeindruckenden Behandlungserfolge relativierte sich jedoch bald. Obwohl man das erste Mal für eine Behandlung des rezidivierenden oder refraktären Mantelzelllymphoms eine wirksame chemotherapiefreie Behandlungsoption zur Hand hatte, ein Medikament, das oral eingenommen werden konnte, musste man feststellen, dass bei etwa einem Viertel der Patienten BTK-Hemmer von vornherein nicht wirkten und da, wo sie (zunächst) wirkten, die erzielten Remissionen nicht dauerhaft waren. Doch warum war das der Fall?
BTK-Inhibitoren hören auf zu wirken, weil Krebszellen Resistenzen entwickeln. Diese Resistenzen können durch Mutationen im BTK-Gen oder im Signalweg entstehen, wodurch die Bindung des Inhibitors an das Enzym verhindert wird. Zudem können alternative Signalwege aktiviert werden, die das Überleben der Krebszellen trotz Hemmung der BTK ermöglichen. Diese Mechanismen führen dazu, dass die Therapie mit BTK-Inhibitoren im Laufe der Zeit weniger effektiv wird.
Mit einer neuen Klasse von Medikamenten, den sogenannten nicht-kovalenten BTK-Inhibitoren, von denen sich Pirtobrutinib bereits im Zulassungsverfahren, Orelabrutinib und Nemtabrutinib in fortgeschrittenen klinischen Studien befinden, hoffte man dieses Problem zu überwinden.Tatsächlich sind diese BTK-Inhibitoren oft auch dann noch wirksam, wo zuvor kovalente BTK-Inhibitoren etwa aufgrund von C481-(Resistenz-)Mutationen versagten. Doch auch hier musste man letztendlich die allzuhohen Erwartungen dämpfen, die an die Entwicklung dieser Medikamente geknüpft waren. Trotz der Fähigkeit, an alternative Stellen der BTK zu binden und verschiedene, darunter auch C481-Mutationen zu umgehen, kann die Entwicklung neuer Mutationen oder die Aktivierung alternativer Signalwege dazu führen, dass eine Therapie mit einem nicht-kovalenten BTK-Inhibitor letztendlich nicht mehr wirksam ist.
BTK-Degrader sind eine innovative Therapieoption zur Behandlung von Lymphomen, insbesondere bei Patienten, die resistent gegen alle herkömmliche BTK-Inhibitoren sind. Sie bewirken den Abbau der Bruton-Tyrosinkinase (BTK) durch den Einsatz des zellulären Ubiquitin-Proteasom-Systems. Dies führt zu einer effektiveren Reduktion der BTK-Level in den Zellen als durch die bloße Hemmung der Kinaseaktivität.
BTK-Degrader zeigen eine starke antiproliferative Wirkung, indem sie die Signalwege, die das Wachstum der Krebszellen fördern, unterbrechen und somit das Tumorwachstum reduzieren. Da BTK-Degrader das gesamte Protein entfernen, sind sie auch dann wirksam, wenn die BTK-Mutationen eines Patienten ihn gegen BTK-Inhibitoren im Protein resistent machen. Sie sind damit besonders vielversprechend für Patienten, die gegen traditionelle BTK-Hemmer resistent sind, da sie etwa auch bei doppelt refraktären CLL-Patienten (gegen BTK-Inhibitoren und zusätzlich gegen BCL2-Inhibitoren wie Venetoclax) wirksam sind. BTK-Degrader haben ein günstiges Nebenwirkungsprofil, was sie zu einer attraktiven Option für die Behandlung macht. Weil aber BTK-Degrader eine verhältnismäßig neue Option in der Lymphomtherapie sind, gibt es noch keine umfassenden Langzeitstudien zu BTK-Degradern bei Mantelzelllymphomen. Die aktuellen Studien beschäftigen sich hauptsächlich mit der Sicherheit, Pharmakokinetik und vorläufigen Wirksamkeit von neuen Substanzen. (Diese Studien finden auch in Deutschland statt. So werden etwa an der Universitätsklinik Ulm zwei unterschiedliche Substanzen, BGB-16673 und ABBV-101, in Phase-1/2-Studien getestet.)
Alles in allem am weitesten fortgeschritten ist wohl:
Alexey Daniliv et al., A First-in-Human Phase 1 Trial of NX-2127, a First-in-Class Bruton's Tyrosine Kinase (BTK) Dual-Targeted Protein Degrader with Immunomodulatory Activity, in Patients with Relapsed/Refractory B Cell Malignancies, in Blood (2023), 142 (Supplement 1): 4463
Es handelt sich hierbei um eine 2022 gestartete Studie an ursprünglich 29 Patienten mit CLL/SLL, die im weiteren Verlauf durch 18 Patienten mit anderen Non-Hodgkin-Lymphomen, darunter auch fünf Patienten mit MCL, erweitert wurde.
Bei allen Patienten wurde ein schneller, robuster und anhaltender BTK-Abbau beobachtet, unabhängig vom absoluten BTK-Ausgangsniveau, der Tumorart oder der NX-2127-Dosis. Die Laufzeit der Studie ist aber noch zu kurz, um etwa über die Dauerhaftigkeit dieses Ansprechens wirklich aussagekräftige Resultate zu liefern - immerhin, es wird ausdrücklich erwähnt, dass es unter den fünf Teilnehmern mit MCL zwei Komplettremissionen gab.
Dennoch wirkt die Studie insgesamt methodisch schlecht durchdacht. Dazu gehört zunächst, dass wohl vor allem aus patentrechtlichen und Marketing-Gründen eine für das Therapieergebnis unerhebliche Zusatzwirkung (mittels Ikaros/Aiolos-Degradation) angezielt wird, die aber einen Vergleich der Studie mit anderen zu BTK-Degradern erschwert.
Dann wird angegeben, dass 100% der CLL/SLL-Patienten, aber nur 72% der Teilnehmer mit NHL zuvor mit BTK-Inhibitoren behandelt worden waren. Was diesbezüglich für die Teilnehmer mit MCL zutrifft, lässt sich aus den zur Verfügung gestellten Daten nicht erschließen - und ebensowenig, ob unter den angegebenen fünf NHL-Fällen mit Krankheitsprogression nicht auch MCL-Patienten waren.
Und wie sind die berichteten, aber nicht weiter kommentierten Fälle von Krankheitsprogression (sowohl bei CLL/SLL als auch bei anderen in der Studie behandelten Non-Hodgkin-Lymphomen) einzuschätzen? Einen Hinweis hierzu liefert ein Zufallsfund in einem Artikel von E. Wang et al. "Mechanisms of resistance to noncovalent Bruton’s tyrosine kinase inhibitors", in: New England Journal of Medicine 2022, 386, p.735–743.
Hier wird vom Fall eines Teilnehmers an einer andern Studie mit gegen alle anderen BTK-Inhibitoren refraktärer CLL berichtet, dessen Krankheit vier Monate nach Therapiebeginn mit dem BTK-Degrader BGB-16673 progedierte.
Ergebnisse genetischer Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die in diesem Fall festgestellten CLL-Zellen mit der Mutation BTK A428D nicht nur resistent gegenüber nicht-kovalenten oder kovalenten BTK-Inhibitoren, sondern auch resistent gegen BTK-Degrader sein könnten.
Zwar scheint ebendiese Mutation bei den MCL-Teilnehmern der Studie zu NX-2127 noch nicht aufgetreten zu sein, aber der berichtete Fall gibt berechtigten Anlass zur Sorge, dass die Hoffnung auf ein Allheilmittel wieder einmal verfrüht gewesen sein dürfte. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Behandlungserfolgen neuer therapeutischer Ansätze und den durch ihren Selektionsdruck generierten Resistenzmutationen geht damit wohl in die nächste Runde.
Aus Patientensicht: zwar schade, aber doch (optimistisch gesehen): eine weitere Runde.
Studie des Monats: Juli 2024
Bei MCL mit TP53-Mutationen wird heutzutage von vornherein von Immunochemotherapien abgeraten. Dass man früher trotzdem diesen Behandlungsansatz - gewöhnlicherweise in intensivierter Form mit autologer Stammzelltransplantation - verfolgte, liegt einerseits daran, dass man es nicht besser wusste, andererseits aber (und vor allen Dingen) daran, dass andere Therapien auch nicht verfügbar waren oder aber, wie allogene Stammzelltransplantationen, zumindest in der Erstlinie als kaum verantwortbar erschienen. Gleichwohl waren die Aussichten für Patienten mit TP53-Mutationen in Chemoimmuntherapie (mit einem medianen Gesamtüberleben von nicht einmal zwei Jahren) düster.
Diese Lage begann sich erst mit der Zulassung von Ibrutinib und seiner Einführung am breiten Markt vor etwa zehn Jahren zu verbessern. Obwohl Ibrutinib allein nicht in der Lage schien, die ungünstige Ausgangslage bei TP53-Mutationen grundsätzlich zu verändern, zeigten Studien doch eine deutliche Verbesserung in Kombination mit dem BCL2-Inhibitor Venetoclax. (Hier lohnt sich auch ein ,Blick über den Zaun': Bei CLL, die unter Onkologen, etwas simplifizierend, zuweilen als 'MCL light' gehandelt wird, hat sich mittlerweile Venetoclax plus Ibrutinib mit MRD-geleiteter Therapiedauer als neuer Erstlinienstandard etabliert.) Nachdem schließlich unter Hinzunahme von Rituximab auch ein Behandlungs-Triplet für MCL angedacht wurde, lag die Idee nahe, darüber hinaus die verwendeten Medikamente durch 2nd-generation-Substanzen zu ersetzen, d.h. Obinutuzumab für Rituximab (vgl. "Studie des Monats: Juni 2024"), Zanubrutinib für Ibrutinib (vgl. "Studie des Monats: Juli 2023"). (Die Zwischenergebnisse laufender Studien bei CLL lassen auch eine Ersetzung durch Sonrotoclax für Venetoclax denkbar werden. Für MCL ist das allerdings noch Zukunftsmusik.)
Eine nach diesem Schema (Zanubrutinib/Obinutuzumab/Venetoclax = BOVen) optimierte, kürzlich initiierte Studie hat für unsere Schwerpunktsetzung ein besonders geeignetes Design: sie wurde ausschließlich für TP53-mutierte MCL-Patienten konzipiert.
Der Name der Studie, "BOVen", ist ein Akronym, ein Kunstwort, das sich durch eine Zusammensetzung aus den Anfangsbuchstaben der verwendeten Wirkstoffe oder ihrer Medikamentennamen ("Brukinsa" für Zanubrutinib) ergibt.
Anita Kumar et al., A Multicenter Phase 2 Trial of Zanubrutinib, Obinutuzumab, and Venetoclax (BOVen) in Patients with Treatment-Naïve, TP53-Mutant Mantle Cell Lymphoma, in: Blood (2023) 142 (Supplement 1): 738.
Obwohl eine Abkehr von der Vorstellung "viel hilft viel" für TP53-mutierte MCL-Patienten begonnen hat, fehlte bisher immer noch eine gut praktikable, sichere und für Patienten relativ verträgliche Alternative. Ist es die hier untersuchte Kombination von Zanubrutinib, Obinutuzumab und Venetoclax?
Lange läuft die BOVen-Studie noch nicht. Auf dem Jahreskongress 2023 der American Society of Hematology wurde aber ein erstes Zwischenergebnis vorgestellt. Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 23,3 Monaten lag die 2-Jahres-PFS-Rate bei 72%. Schon dieses Ergebnis wäre für Patienten mit TP53-Mutation bereits ermutigend zu nennen. Noch deutlicher wird der Fortschritt gegenüber der früheren Behandlungsrichtlinie (intensivste Chemoimmuntherapie + ASCT) aber, wenn man ihr gegenüber eine im Alter eher vergleichbare Patientengruppe aus der jetzigen BOVen-Studie heranzieht. Hier zeigt sich ein noch erfreulicheres Ergebnis: bei den neun Patienten unter 65 Jahren lagen das 16-Monats-progressionsfreie und das Gesamtüberleben jeweils bei 100%.
Vergleicht man diese Zahlen mit denen der gepoolten Analyse der Nordischen Lymphomgruppe (MCL-2- und MCL-3-Studien) von 2016, wird klar, dass man über unterschiedliche Welten spricht: trotz 'optimaler' intensiver Induktionstherapie mit anschließender konsolidierender autologer Stammzelltransplantation hatten Patienten mit einer TP53-Mutation damals lediglich ein medianes progressionsfreies Überleben von 0,9 Jahren und ein medianes Gesamtüberleben von 1,9 Jahren.
Wenn man zudem die Nebenwirkungen und Belastungen der verabreichten Hochdosistherapie + ASCT mitbedenkt, mutet der vor wenigen Jahren noch übliche Standard aus heutiger Sicht fast schon mittelalterlich an.
Die Ergebnisse der besprochenen Studie basieren zwar noch auf einer verhältnismäßig dünnen Datenlage. Dennoch dürften sie bereits jetzt als zukunftsweisend für TP53-mutierte MCL-Patienten zu werten sein. ("Nach oben" heißt im Niederländischen übrigens - welch glückliche Fügung - "naar boven".) Nicht von ungefähr ist die laufende Studie ausgeweitet worden, um zugunsten einer noch höheren Aussagekraft zusätzliche 25 weitere Patienten zu rekrutieren.
Und offensichtlich beflügelt von den erzielten Ergebnissen bei TP53-mutiertem MCL stellten Anita Kumar et al. kürzlich auf dem Jahreskongress 2024 der European Hematology Association eine Folgestudie vor - "Preliminary Safety and Efficacy of BOVen (Zanubrutinib, Obinutuzumab and Venetoclax) for Frontline Therapy for older Patients with Mantle Cell Lymphoma" -, von der allerdings erst das Abstract, also nur eine Kurzzusammenfassung, vorliegt:
In dieser Phase-II-Studie wurde die Wirksamkeit und Sicherheit von BOVen als Erstlinienbehandlung bei älteren MCL-Patienten (> 65 J.) untersucht. Das mediane Alter bei der Aufnahme in die Studie betrug 71 Jahre bei mehrheitlich prognostisch ungünstigen Voraussetzungen. Nach dem "mantlecell-lymphoma international prognostic index" (MIPI) gehörten 70% der Teilnehmer zur Hochrisikogruppe. 28% der Teilnehmer hatten eine TP53-Mutation. Viel kann noch nicht über die Ergebnisse gesagt werden, da die mediane Nachbeobachtungszeit bisher lediglich 11 Monate beträgt. Aber immerhin: von den 43 Patienten, bei denen ein Ansprechen festgestellt werden konnte, lag die Gesamtansprechrate bei 98% (42/43), wobei 79% (34/43) ein vollständiges Ansprechen erreichten. Sollte sich diese hohe Ansprechrate mit der Zeit auch in ein entsprechend verlängertes progressionsfreies und Gesamtüberleben übersetzen, wäre das ein weiterer Beleg dafür, dass chemotherapiefreie Kombinationen für die Behandlung älterer MCL-Patienten vielversprechend sind.
Studie des Monats: Juni 2024
Der monoklonale CD-20-Antikörper Rituximab war seinerzeit, kurz vor der Jahrtausendwende, ein wirklicher "game changer" in der Behandlung von Lymphomen. (Später wurde Rituximab auch erfolgreich in der Behandlung von Autoimmunerkrankungen eingesetzt.) Bis heute ist Rituximab ein (noch) unbestrittenes Standardmedikament in der MCL-Therapie. Doch das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten - und hierum dreht sich auch die von uns besprochene Studie.
Clementine Sarkozy et al., Obinutuzumab versus Rituximab in transplant-eligible untreated Mantle cell lymphoma patients, in: Blood, Research Article, April 26, 2024.
Obinutuzumab ist ein 2nd-generation CD-20 Antikörper; die Weiterentwicklung des ersten zugelassenen Wirkstoffs in dieser Klasse (Rituximab), der durch eine wesentliche Verbesserung der Technik des sogenannten Glykoengineering optimiert wurde. Dadurch kann die Vernichtung bösartiger B-Lymphozyten durch Aktivierung anderer Immunzellen gegen Krebszellen oder die direkte Auslösung des Zelltodes verbessert werden.
Man könnte nun schlicht und einfach vermuten, dass ein verbessertes Medikament auch einen verbesserten Nutzen hat. Oft ist das so, aber manchmal ist es auch nicht so einfach. Am besten wäre es, man würde die naheliegende Annahme im direkten Vergleich überprüfen. Doch ein solcher direkter Vergleich ist bisher - jedenfalls für MCL - nicht unternommen worden. (Der mutmaßliche Grund hierfür dürfte im außermedizinischen Bereich liegen und im weiteren Verlauf des Artikels noch erwähnt werden.)
Die von uns besprochene Studie ist daher die zweitbeste Option: eine retrospektive Vergleichsstudie. Sie greift zurück auf schon existierende Daten aus separaten Studien und stellt aus diesen Daten mittels eines speziellen Verfahrens ("propensity score matching") in wesentlichen Charakteristika vergleichbare Gruppen von Patienten her. Das geht mehr oder weniger gut und kann einen direkten Vergleich nicht ersetzen. Aber immerhin.
Beginnen wir gleich mit einem besonderen Umstand, der die Vergleichbarkeit der "Rituximab-Studie"+ DHAP ("Lyma") mit der
"Obinutuzumab-Studie"+ DHAP ("Lyma-101") erschwert: Während "Lyma" vor Beginn der Covid-19-Epidemie durchgeführt wurde, trat für die Teilnehmer an "Lyma-101" ein weiterer Risikofaktor hinzu (drei Patienten verstarben an einer Covid-Infektion). Obwohl aus diesem Umstand mangels empirischem Vergleich nicht auf eine per se höhere Infektionsgefährdung durch Obinutuzumab (gegenüber Rituximab) zurückgeschlossen werden konnte, beeinflusste er das Gesamtüberleben (OS) zuungunsten von Obinutuzumab. Denn nur bei 42% der Obinutuzumab-Gruppe (gegenüber 53% in der Rituximab-Gruppe) war Lymphomprogression die Todesursache. Umso erstaunlicher das Gesamtergebnis des indirekten Vergleichs: sowohl in PFS als auch im OS schnitt die Obinutuzumab-Gruppe eindeutig besser ab. Das PFS in der Obinutuzumab-Gruppe lag nach 5 Jahren bei 82,8% gegenüber 66,6% in der Rituximab-Gruppe; das OS nach 5 Jahren bei 86,4% gegenüber 71,4%. Das mag auf den ersten Blick nach einem geringen Unterschied aussehen. Tatsächlich ist er enorm. Er entspricht einer "hazard ratio" von 1.99 und 2.08, also einer etwa doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit, Progression oder Tod im entsprechenden Zeitraum zu erleiden, wenn man Rituximab (+ DHAP + ASCT + Rituximab-Erhaltung) anstelle Obinutuzumab (+ DHAP + ASCT + Obinutuzumab-Erhaltung) als Therapie erhielt.
Doch warum, könnte (und müsste) man aufgrund dieser Ergebnisse fragen, ersetzt Obinutuzumab nicht umgehend Rituximab als Standardmedikation in der Behandlung von MCL, zumindest in der Kombination mit DHAP + ASCT + Erhaltungstherapie? (Für andere Kombinationen liegen noch keine Vergleichsergebnisse vor.)
Das liegt zunächst daran, dass es für die Zulassung eines Medikaments für eine bestimmte Indikation durch die FDA in den USA und die EMA in der EU standardisierte Verfahren gibt (zu denen indirekte Vergleichsstudien nicht gehören), mit denen überprüft werden kann, ob eine Verbesserung auf medizinischer Ebene vielleicht damit erkauft wird, dass das Arzneimittel unverträglicher als bisherige Präparate ist, riskante oder im schlimmsten Fall sogar tödliche Nebenwirkungen hat.
Das entsprechende Zulassungsverfahren in den USA nimmt gewöhnlicherweise eine weniger lange Zeit in Anspruch, oft sind neue Medikamente in den USA schon längst auf dem Markt, während sie in der EU noch ein langwieriges Prüfverfahren durchlaufen, in dem zunächst der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA die vom Pharmaunternehmen eingereichten Unterlagen zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit (Sicherheit) des Medikaments umfassend prüft. Die Anforderungen an diese drei Kriterien müssen erfüllt sein, damit,
auf Basis dieser Prüfung ein Gutachten mit einer Empfehlung zur Zulassung erstellt wird. Eine positive Empfehlung des CHMP setzt voraus, dass der potenzielle Nutzen des Medikaments die Risiken überwiegt (positive Nutzen-Risiko-Bewertung).
Nach einer im Anschluss erteilten Genehmigung durch die EU-Kommission verlangen die deutschen Arzneimittelbehörden keinen erheblichen Zusatznutzen für die Zulassung eines neuen Medikaments gegenüber bereits zugelassenen Therapien. Dieser spielt erst eine Rolle bei der "frühen Nutzenbewertung" durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Diese Nutzenbewertung dient der Preisverhandlung mit den Krankenkassen und hat keinen Einfluss auf die Zulassungsentscheidung der Behörden.
Die pharmazeutischen Unternehmen müssen für neue Arzneimittel (erneut) Dossiers gemäß den Vorgaben des G-BA einreichen. Der G-BA beauftragt dann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Bewertung dieser Dossiers. Basierend auf der IQWiG-Bewertung und einer anschließenden Stellungnahme- und Anhörungsphase trifft der G-BA dann die abschließende Entscheidung über Ausmaß und Einstufung des Zusatznutzens des neuen Arzneimittels. (Theoretisch ist der
G-BA auch zuständig für die Weiterentwicklung der Methoden zur Nutzenbewertung, etwa zur Einbeziehung von Patientenpräferenzen oder indirekten Vergleichen, so dass auf diesem Umweg schließlich doch die von uns besprochene Studie Berücksichtigung finden könnte.)
Das Verfahren bis zur Genehmigung eines Medikaments in den Einzelstaaten der EU ist unflexibler und umständlicher als die entsprechende Genehmigung durch die FDA in den USA. Ob es, wie gerne behauptet, tatsächlich einer höheren Patientensicherheit dient, sei dahingestellt. Allerdings wäre für einen fairen Vergleich auch der umfassendere Kontext der unterschiedlichen Gesundheits- und Versicherungssysteme in den USA und der EU und ihre daraus resultierenden unterschiedlichen Kosten-Nutzen-Bewertungen zu berücksichtigen.
Oft aber liegt der Grund für eine verzögerte oder ausbleibende Zulassung an einer anderen Stelle. Und auch hier spielt eine, wenn auch anders gelagerte Kosten-Nutzen-Abschätzung eine Rolle.
Es ist die systemimmanente Profitorientierung der Pharmakonzerne sowohl in den USA wie in der EU, die dazu führt, dass Zulassungen für neue Medikamente nur dann beantragt werden, wenn die hohen Kosten einer Phase-II-Studie (für die Beantragung einer beschleunigten Zulassung) oder die sehr hohen Kosten einer Phase-III-Studie (für die Beantragung einer unbeschränkten Zulassung) auch erwartbar wieder 'eingespielt' werden können. Es ist deshalb kein Zufall, dass Zulassungen für die lukrativen, weil häufigen Lymphomentitäten DLBCL, CLL, Multiples Myelom und Follikuläres Lymphom, die zusammen etwa 2/3 aller Lymphome ausmachen, eher beantragt, lobbyiert und genehmigt werden als eine Zulassung bei MCL. (Hinzu kommt, dass aufgrund der geringeren Anzahl an Betroffenen MCL-Studien auch schwerer zu initiieren sind.)
Eine Zulassung für Obinutuzumab gibt es für die Indikation "Mantelzelllymphom" (noch) nicht. Hingegen ist Obinutuzumab bereits zur Erstlinientherapie von Patienten mit zuvor unbehandelter chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) in Kombination mit Chlorambucil zugelassen, außerdem zur Behandlung von follikulärem Lymphom (FL) bei Patienten, die mindestens eine Vortherapie mit Rituximab erhalten haben.
Schwer zu beantwortende Frage: Lohnt es sich, als Patient mit MCL auf eine baldige Zulassung von Obinutuzumab zu warten? Meines Wissens ist diese noch nicht einmal beantragt worden. Weil aber etliche Studienergebnisse zu Kombinationstherapien mit Obinutuzumab bei MCL in naher Zukunft erwartet werden, könnte sich das bald ändern.
Gesicherter Stand der Dinge ist jedenfalls: Obinutuzumab ist ein von der EMA und in Deutschland zugelassenes Medikament - wenn auch für andere Medikationen als MCL. Und dieser Umstand weist den Weg, den man als Patient (jedenfalls z. Zt. noch) gehen muss, um eine Therapie mit Obinutuzumab anstelle von Rituximab zu erhalten (vgl. die Hinweise unter "Therapieoptionen" auf "mantelzeller. de"). Es ist eine Beantragung des "Off-Label-Use" für Obinutuzumab zur Behandlung einer Mantelzelllymphom-Erkrankung.
Studie des Monats: Mai 2024
Die blastische Variante des Mantelzelllymphoms (bMCL) ist eines der ,Sorgenkinder' der medizinischen Forschung im Bereich der Leukämien und Lymphome. Obwohl im letzten Jahrzehnt eine Vielzahl neuer Medikamente und Verfahren auf den Markt gekommen sind, die - wie mehrere groß angelegte Real-Life-Studies übereinstimmend zeigen - die Lebenserwartung bei MCL drastisch erhöht haben, gilt das für die Fallgruppe der blastischen und pleomorphen Mantelzelllymphome nur eingeschränkt. Vor allen Dingen hat sich die Hoffnung bisher nicht erfüllt, dass Medikamentenkombinationen mit BTK-Inhibitoren eine entscheidende Verbesserung in der Therapie von bMCL bedeuten könnten. Das Selbe gilt, zumindest bislang, für BiTEs und CAR-T-Zelltherapien. Das heißt nicht, dass es hier überhaupt keine Fortschritte gäbe, aber ein entscheidender Durchbruch ist bisher ausgeblieben. Die Lagebeschreibung, die in der folgenden Zusammenfassung gegeben wird, ist auch heute noch weitgehend aktuell:
Martin Dreyling et al., Blastoid and pleomorphic mantle cell lymphoma: still a diagnostic and therapeutic challenge!, in: Blood, December 27, 2018
Folgt man der Darstellung der Autoren, lassen sich im Wesentlichen vier therapeutische Zugangsweisen unterscheiden:
- Immunchemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation
- Kombinationen mit BTK-Inhibitoren
- Studien zu neuen Medikamentenklassen bzw. Verfahren (das schließt
Weiterentwicklungen bei BiTEs und CAR-T-Zelltherapien mit ein)
- Allogene Stammzelltransplantation
Obwohl bei sämtlichen genannten Therapieansätzen die Ergebnisse für bMCL in PFS und OS unter denen für cMCL lagen, vergleichbar in etwa mit denen für cMCL mit tp53-Mutationen, gibt es zwischen den beiden letztgenannten Varianten Unterschiede: Während bei MCL mit tp53-Mutationen von vornherein von Immunochemotherapien abgeraten wird, ist die Lage bei bMCL eine andere. Die Verlaufsstudien zur Therapie mit dem "Nordischen Protokoll" (R-Maxi-CHOP/ARA-C mit anschließender Konsolidierungschemotherapie und autologer Stammzelltherapie) zeigen für die Untergruppe mit bMCL zwar schlechtere Langzeitergebnisse als für die Vergleichsgruppe mit cMCL, aber doch eine mediane Überlebenszeit von immerhin 10 Jahren und eine Progressionsfreiheit von noch 44% der Patienten zu diesem Zeitpunkt. In anderen dosisintensivierenden Therapieschemata, vor allem in Kombinationen mit Bendamustin, sind die Ergebnisse allerdings nicht ganz so gut (teilweise auch deutlich schlechter), was M. Dreyling u. a. zur Hypothese führt, dass vor allem das bei MAXI-CHOP hochdosierte Anthracyclin in Kombination mit hochdosiertem ARA-C für den Therapieerfolg verantwortlich sein dürfte. Für die Untergruppe "blastisches MCL" dürfte jedenfalls die alte Behandlungsleitlinie, für junge und fitte Patienten eine Immunochemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation und anschließender Rituximab-Erhaltung zu empfehlen, weiterhin ihre Gültigkeit behalten. Ob für bMCL eine Ersetzung der autologen Stammzelltransplantation durch die zusätzliche Gabe von Ibrutinib möglich ist, lässt sich mangels ausreichender Langzeitbeobachtung in der TRIANGLE-Studie (und nicht ausreichenden Vergleichsdaten zwischen bMCL und cMCL) noch nicht beantworten.
Immerhin ist Ibrutinib ja in unterschiedlichen Kombinationen auch bei bMCL wirksam, allerdings sind die bisher erzielten Remissionen vergleichsweise kurz. Noch aber besteht Hoffnung, dass in chemotherapiefreien Mehrfach-Kombinationen wie VIPOR (vgl. "Studie des Monats Oktober 2023") auch für bMCL vergleichsweise dauerhafte Langzeitremissionen erzielt werden können.7 Vor allem an ältere/unfitte Patienten ist hier gedacht, für die eine derart intensive Therapie wie das "Nordische Protokoll" von vornherein nicht in Frage kommt.
So oder so: wenn bei einem Rezidiv nicht eine Behandlung in Studien zu BiTES oder CAR-T-Zelltherapien in Frage kommt, sollte bei bMCL - aufgrund des gewöhnlich raschen Voranschreitens der Krankheit deutlich eher als bei cMCL - über eine allogene Transplantation nachgedacht werden (vgl. "Studie des Monats: April 2024"); vor allem dann, wenn das bMCL zusätzlich noch eine tp53-Mutation aufweist.
So weit - jedenfalls im Ungefähren - der Standard-Behandlungsalgorithmus ("wenn diese Voraussetzungen, dann dieses; wenn jene Voraussetzungen, dann jenes") bei bMCL. Eine kürzlich vorgestellte Metastudie von J. Gerson et al., "Outcomes of patients with blastoid and pleomorphic variant mantle cell lymphoma", in: Blood Advances, 13. Dez 2023 (207 Patienten mit bMCL, behandelt von 2000-2015) kommt retrospektiv zu ähnlichen Schlüssen. Gerson et al. merken allerdings an, dass sich bei einer autologen Stammzelltransplantation bei bMCL zwar Vorteile im progressionsfreien, nicht jedoch im Gesamtüberleben aufweisen lassen.
Das dürfte Wasser auf die Mühlen einer vermutlich nicht ganz kleinen Gruppe sein, die im derzeitigen Behandlungsalgorithmus unberücksichtigt bleibt: diejenigen, die sich einer Intensiv-Chemotherapie mit nachfolgender autologer Stammzelltherapie nicht unterziehen wollen oder können und denen zudem die oben angeführten Alternativen (noch) unzureichend erscheinen.
Unter diesen Umständen kann es sich lohnen, am Wegesrand der etablierten Therapien zu suchen. Die folgende Studie zeigt zudem, dass die Beantwortung der Frage, ob man mit einem interessanten, aber (bislang) ungebräuchlichen Behandlungsansatz vielleicht zufällig ein Kaninchen aus dem Hut gezogen hat, vom näheren Hinsehen abhängt.
Francis R. LeBlanc et al., Combined epigenetic and immunotherapy for blastic and classical mantle cell lymphoma, in: Oncotarget. 2022; 13: 986–1002.
Die Studie stellt eine Rückschau im Detail auf eine Forschungsreihe dar, deren (Zwischen-) Ergebnisse bereits 2011 und 2019 veröffentlicht wurden. Seit nun fast 15 Jahren wird eine 'epigenetische' Kombinationstherapie mit einem CD20-Antikörper (Rituximab/Ofatumumab) und zwei Substanzen, die einerseits bei Haarzell-Leukämie, aber auch bei Multipler Sklerose (Cladribin, ein immunmodulierendes und antineoplastisches Medikament) und andererseits bei kutanen T-Zell-Lymphomen (Vorinostat, ein HDAC-Inhibitor) eingesetzt werden, untersucht. Weder Cladribin noch Vorinostat waren als Monotherapie bei B-Zell-Lymphomen sonderlich erfolgreich, in Kombination mit CD20-Antikörpern hingegen schon eher. So wurde bereits seit der Jahrtausendwende die Kombination Cladribin und Rituximab bei B-Zell-Lymphomen untersucht; später dann (unter dem Akronym "ACR") unter Hinzufügung von Vorinostat.
In der ersten Zwischenbilanz einer Phase 1/2-Studie zu ACR bei Non-Hodgkin-Lymphomen (2011) wird bereits darauf hingewiesen, dass - und das ist ungewöhnlich - vor allem die Untergruppe der bisher unbehandelten MCL-Patienten bemerkenswert gute Verläufe unter Therapie hat. (Für MCL-Patienten im Rezidiv gilt das nicht. Eine Erklärung hierfür könnte darin liegen, dass durch eine vorherige Chemotherapie das Epigenom für eine erfolgreiche Therapie mit ACR zu stark geschädigt wurde.) Dann bleibt es lange ruhig um diesen Behandlungsansatz. Erst 2019 werden Langzeitergebnisse der Studie präsentiert: dabei wird hervorgehoben, dass der durchschnittliche progressionsfreie Verlauf unter ACR für unbehandeltes MCL 84 Monate dauert und das durchschnittliche Gesamtüberleben (noch) nicht angegeben werden kann. Das sind ohne Zweifel gute Ergebnisse - doch die Resonanz der Fachwelt ist überraschenderweise vergleichsweise gering.
Sang- und klanglos soll die Studie jedoch nicht 'im Papierkorb' verschwinden. Ende des Jahre 2022 wird auf dem Kongress der "American Society of Hematology" in einer Detailbetrachtung der Ergebnisse von 2019 das Augenmerk vor allem darauf gelenkt, dass für bMCL (unbehandelt + im Rezidiv) unter SCR-Therapie der Median im progressionsfreien Überleben 17.3 Monate, im Gesamtüberleben 43.4 Monate beträgt. Das ist signifikant mehr als bei fast allen anderen Therapien, wenn man von Einzelergebnissen in Intensivchemoimmuntherapien mit ASCT (bei im Durchschnitt deutlich jüngeren Patienten) absieht. Zusätzlich wird darauf hingewiesen, dass die Untergruppe der bMCL mit Komplettremissionen (5 von 12) überraschend stabile Verläufe zeigt.
Doch je differenzierter die Untergruppen betrachtet werden, desto kleiner werden leider auch die Fallzahlen. Zwar sind es vier von fünf Patienten, die dauerhafte Remissionen von mehr als fünf Jahren haben und weiterhin krankheitsfrei sind - aber es sind insgesamt zu wenige, um wirklich fundiert sagen zu können, dass die ACR-Therapie einen echten Durchbruch zumindest bei einer Teilgruppe der bMCL bedeutet. Aber es ist immerhin ein Hinweis darauf, dass es sich lohnen könnte, den 'epigenetischen Ansatz' der ACR-Therapie, insbesondere zur Anwendung bei bMCL, weiterzuverfolgen.
Studie des Monats: April 2024
Unter den Mantelzelllymphomen gibt es günstigere, sogenannte "indolente" Verläufe, es gibt das 'normale' MCL und es gibt Hochrisikogruppen, etwa tp-53-mutiertes oder blastisches MCL. Und leider gibt es auch Übergänge von den weniger problematischen zu den problematischeren Varianten. Schon allein das ist ein Grund auch für Nicht-Hochrisikopatienten, sich mit Behandlungsoptionen zu befassen, die jenseits der Erstlinien-Standardoption Chemoimmuntherapie liegen. Denn Chemotherapie ist für Hochrisikopatienten keine valide Option, da sie hier gewöhnlich nur zu kurzzeitigen Remissionen führt. Und wenn es auch gangbare Alternativen gibt (wie sie etwa in der zur Zeit vielversprechendsten Phase-2-Studie zu einer Kombination von Obinutuzumab, Zanubrutinib und Venetoclax bei tp53-mutiertem therapie-naiven MCL untersucht werden), ist es - zunächst schon einmal zur Standortbestimmung - sinnvoll, sich grundsätzlich auch mit der radikalsten Option in der MCL-Therapie zu befassen, die aus dem Bereich der Immuntherapie stammt. "Immuntherapie" ist ein weit gefasster Begriff, der unterschiedliche Medikamente oder Verfahren (von monoklonalen Antikörpern bis zu CAR-T-Therapien) bezeichnen kann. Auf diese oder jene Weise nutzen Immuntherapien das (durch sie modifizierte) körpereigene Immunsystem, um Krebserkrankungen zu bekämpfen.
Die ultimative Immuntherapie, über die wir an dieser Stelle sprechen wollen, ist jedoch eine noch andere: die allogene Transplantation, die Übernahme eines fremden, noch nicht durch den Verlauf einer Krebserkrankung komprimittierten Immunsystems durch eine Blutstammzell- oder Knochenmarksspende. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das verhältnismäßig große Risiken mit sich bringt und das gewöhnlich nur dann angewendet wird, wenn andere Therapien versagt haben oder von vornherein nur geringen oder keinen Erfolg versprechen. Jedoch können auf der anderen Seite selbst redizivierte oder refraktäre MCL-Hochrisikopatienten (blastisches oder pleomorphes MCL, tp53-mutiertes MCL) ohne sonstige verbleibende Therapieoptionen durch eine allogene Transplantation dauerhafte Remissionen erzielen oder sogar geheilt werden, obwohl - auch noch lange nach der Transplantation - das Risiko eines Rückfalls der ursprünglichen Krankheit bestehen bleibt, gegen die die Transplantation durchgeführt wurde.
Eine allogene Transplantation galt aber früher als so riskant, dass sie nur bei jungen und körperlich fitten Patienten durchgeführt wurde. Zudem war sie nur bei Verfügbarkeit eines in zentralen immunologischen Merkmalen 'passenden', gewöhnlicherweise verwandten Spenders denkbar. Heute hingegen führen neue Formen und Modalitäten der allogenen Transplantation dazu, dass sehr viel mehr MCL-Patienten sich Gedanken darüber machen können (und sollten), ob für sie im Ernstfall eine allogene Transplantation in Frage kommen könnte. Und da hier in den letzten Jahren bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden sind, gibt es gute Gründe, genauer hinzusehen.
Bei einer allogenen Transplantation existieren zwei Risiken, die bei anderen Therapien nicht auftreten. Das erste Risiko hängt damit zusammen, dass bei einer allogenen Transplantation das körpereigene Immunsystem entweder vernichtet wird (myoablative Konditionierung) oder aber zumindest weitgehend ausgeschaltet wird (reduced intensity conditioning), damit sich das 'neue' Immunsystem (weitgehend) ungehindert etablieren kann. Diese Behandlung ist somit ein 'Spiel mit dem Feuer', da - neben der direkten Gefahr auftretender Nebenwirkungen durch die sehr intensive Chemo- oder Strahlentherapie - über eine gewisse Zeit, in der das 'alte' Immunsystem außer Kraft gesetzt worden, das 'neue' aber noch nicht vollständig etabliert ist, eine hohe Anfälligkeit für potentiell tödliche Infekte besteht. Vor allem diese Gefahr führte früher dazu, dass etwa ein Drittel der Patienten die Transplantation nicht überlebten bzw. im ersten Jahr nach der Transplantation verstarben. Durch neue Behandlungmodi und -routinen, wirksamere antivirale, antibakterielle und antimykotische Mittel ist diese Zahl mittlerweile deutlich gesunken.
Eine weitere Gefahr besteht jedoch im Auftreten einer Immunreaktion des 'neuen' Immunsystems gegen Organe des Empfängers (unmittelbar, aber auch noch Jahre nach der Transplantation) - die sogenannte "Graft vs. Host Disease" (GvHD) Hierbei interpretiert das Immunsystem des Spenders die Zellen des Empfängers als 'fremd' und greift diese an, was zu Schädigungen an prinzipiell jedem Organ des Körpers (am Häufigsten an Haut, Leber und Darm) führen kann. Höhere Schweregrade einer (akut auftretenden) GvHD führen zu vergleichsweise hohen Sterberaten und (vor allem in den chronischen Verlaufsformen) einer signifikanten dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität betroffener Patienten.
In der Prophylaxe und Bekämpfung der GvHD galt es bisher als sehr schwierig, entscheidende Fortschritte zu erzielen, weil - gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis - ein gewisses, tolerierbares Maß an GvHD-Aktivität notwendig zu sein schien, um eine ausreichende "Graft vs. Lymphoma"-Wirkung (GvL) zu erreichen. In der Praxis ging es daher lange Zeit darum, eine überschießende GvHD, wenn sie denn nach der Transplantation entstand - etwa mit einer generalisierten Behandlung durch Corticosteroide, Kinase-Inhibitoren wie Ruxolitinib oder einer auf spezielle Organsysteme zugeschnittenen Behandlung (etwa: Fäkaler Mikrobiomtransfer (FMT) zur Wiederherstellung eines gesunden Darmmikrobioms) - zu minimieren.
Zunehmend allerdings haben sich die Forschungsschwerpunkte auf eine wirksamere Prophylaxe der GvHD verlegt: Die hier verwendeten Medikamente (meist Immunsuppressiva, etwa Tacrolimus und Mycophenolat-Mofetil) unterdrücken die Aktivierung und Vermehrung der spendereigenen T-Zellen, die die GvHD auslösen können. Seit neuerem wird präventiv (nach der Transplantation) mit Cyclophosphamid und/oder Abatacept behandelt, deren Wirkmechanismus darin besteht, dass alloreaktive T-Zellen selektiv dezimiert oder inhibiert werden, während regulatorische T-Zellen erhalten bleiben, so dass die GVHD gemildert wird, ohne den GvL-Effekt zu beeinträchtigen.
Es existiert jedoch seit Neuestem ein im Ablauf der Transplantation noch früher ansetzendes Verfahren ("Orca-T"), dessen Wirksamkeit in den folgenden zwei Studien untersucht wird.
Gomez Arteaga A, Oliai C, Patel SS, et al. A retrospective analysis comparing Orca-T to post-transplant cyclophosphamide based allogeneic hematopoietic cell transplant in patients with matched unrelated donors receiving myeloablative conditioning, in: Transplantation & Cellular Therapy, Volume 30, Issue 2, Supplement, February 2024, S. 51-52.
Villar-Pradosi A, Sutherland K, Negrin RS, et al. Phase 1 trial results for patients with advanced hematologic malignancies undergoing reduced intensity allogeneic HCT with Orca-T donor cell therapy product and single agent tacrolimus. Blood. 2023;142(suppl 1):3560. doi:10.1182/blood-2023-188162
Beiden Studien liegt die Überlegung zugrunde, dass eine wirksame GvHD-Prophylaxe vielleicht nicht erst durch eine Behandlung der Patienten nach der Transplantation von Fremdspenderzellen erfolgen muss, sondern sich weitgehend dadurch erübrigen könnte, dass die Fremdzellspende bereits vor der Transplantation, in vitro, präventiv behandelt wird. (Das hierbei verwendete Verfahren unter dem Namen "Orca-T" verweist auf das hinter den Studien stehende Unternehmen, Orca Bio.)
Derzeitige Allotransplantate enthalten eine unkontrollierte Kombination von mehr als 50 Zelltypen, darunter hämatopoetische Stammzellen, Vorläuferzellen, konventionelle T-Zellen, T-regulatorische Zellen (Tregs), natürliche Killerzellen (NK), invariante NK-T-Zellen, dendritische Zellen und myeloide Suppressorzellen. Im Gegensatz dazu enthält Orca-T hämatopoetische Stamm- und Vorläuferzellen (HSPC), die eine langfristige Blut- und Immunrekonstitution ermöglichen. Diese HSPC sind in definierte Zellpopulationen von Tregs unterteilt, die hochrein sind, um GvHD zu verhindern, und in konventionelle T-Zellen, die eine Brücke zwischen Immunrekonstitution, Krankheitskontrolle und Infektionskontrolle schlagen. Orca-T-Transplantationen verwenden lediglich Tacrolimus zur GvHD-Prophlaxe (und keine weiteren das Immunsystem kompromittierenden Medikamente).
Beide Studien vergleichen nun Orca-T-Transplantationen mit retrospektiv gewonnenen Datensätzen zu Transplantationen, die unter posttransplantativem Einbezug von Cyclophosphamid (PTCy) stattfanden.
Die erste der Studien ("myeloablative conditioning") zeigt, dass Orca-T im Vergleich zu PTCy zu einer deutlich besseren Überlebensrate ohne chronische GvHD führte (73% vs. 54%). Auch eine weitere wichtige Kennzahl, die nicht-krankheitskorrelierte Mortalität (NRM), lag nach einem Jahr bei Orca-T entscheidend niedriger als bei PTCy (3% vs. 16%). Und die entscheidende Frage, ob diese Erfolge nicht vielleicht mit einer höheren Rückfallquote erkauft wurden, konnte verneint werden - im Gegenteil: das "relapse free survival" lag nach einem Jahr mit Orca-T deutlich höher (83% vs. 62%).
In der zweiten der Studien ("reduced intensity conditioning") entwickelte lediglich ein einziger von 15 Teilnehmern innerhalb der ersten 100 Tage eine akute GvHD (Grad 2). Ob das Auftreten chronischer GvHD dauerhaft verhindert wurde, lässt sich aufgrund der erst kurzen Laufzeit der Studie noch nicht sicher sagen. Wichtig aber in jedem Fall: innerhalb eines Jahres kam es bei keinem der Studienteilnehmer zu einem Wiederauftreten der ursprünglichen Krankheit.
Beide Studien kommen also im Ungefähren zu ähnlichen Ergebnissen. Das ist wichtig, weil mit der Verfügbarkeit sowohl eines myeloablativen als auch eines "reduced conditioning"-Ansatzes jüngere/fittere und ältere/unfittere Patienten gleichermaßen behandelt werden können. Dass beide Studien lediglich Patienten mit Leukämien und MDS untersuchten, sollten wir zunächst einmal außer Acht lassen, obwohl die Studienergebnisse vermutlich nicht 1:1 auf MCL-Patienten übertragbar sind, da Besonderheiten der Grunderkrankung sowohl in der Häufigkeit ihres Wiederauftretens nach einer allogenen Transplantation, aber auch in Auftreten und Ausprägung von GvHD eine Rolle spielen. Aber hier geht es erst einmal ums Prinzip. Allerdings darf man nicht übersehen, dass es sich, trotz aller ermutigenden Ergebnisse, wenn man das ganze Bild betrachtet, noch um 'Vorarbeiten' hin zu einem möglichen klinischen Durchbruch handelt, mit dem die allogene Transplantation ihren Ruf eines letzten Rettungsankers relativierte, der nur dann ausgeworfen wird, wenn nichts anderes mehr sinnvoll oder möglich scheint.
Eine bereits anlaufende randomisierte Phase 3-Vergleichsstudie, die mit einer wesentlich höheren Teilnehmerzahl und einer längeren Laufzeit angesetzt ist, wird in den nächsten Jahren zeigen, ob Orca-T-Transplantationen - zunächst bei Leukämien und MDS, später vielleicht auch bei r/r MCL - nicht nur sicherer und im Ergebnis erfolgreicher als 'traditionelle' allogene Transplantationen sind, sondern auch, ob sie die Erfahrungen R. Negrins, Mitautor der ersten der von uns kommentierten Studien, auf breiter Basis bestätigen: "Wir haben festgestellt, dass viele Patienten, die sich dieser Therapie [mit Orca-T] unterziehen, sie auf einfachere Weise durchlaufen, dass sie weniger Probleme haben, dass sie schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden und dass sie [insgesamt] eine positivere Erfahrung machen."
Studie des Monats: März 2024
Vitamine nehmen einen hohen Stellenwert in der Selbstmedikation ein, vermutlich noch vor der Anwendung von Naturheilverfahren und homöopathischen Mitteln. Und tatsächlich kann in bestimmten Fällen die Behebung von Vitaminmangelzuständen durch Vitaminsupplementierung ein sinnvolles Vorgehen sein. Ein Allheilmittel sind Vitamine hingegen nicht. Oder handelt es sich hier etwa um eine Glaubensfrage?
Besondere Aufmerksamkeit in dieser schon seit langem, teils wissenschaftlich, teils außerwissenschaftlich geführten Debatte findet ein bestimmtes Vitamin, das - streng genommen - allerdings überhaupt keines, sondern vielmehr ein (Pro-)Hormon ist: Vitamin D. (Hormone werden vom Körper selbst produziert, Vitamine von außen zugeführt.) Tatsächlich ist Deutschland durch seine verhältnismäßig nördliche Lage ein Vitamin D-Mangelgebiet, da durch den flachen Sonnenstand im Winter praktisch keine UV-B-Strahlung auf die Haut trifft, so dass die natürliche Quelle, die aus körpereigenem Calciferol das Hormon Calcitriol bilden kann, über mehrere Monate ausfällt. Um diesen zeitweiligen Hormonmangel auszugleichen, hat sich die Evolution einiges einfallen lassen.(Biologen mögen mir die personalisierte und vereinfachte Darstellung verzeihen.)
Die Menschen, die vom afrikanischen Kontinent in die nördlichen Breitengrade vorstießen, depigmentierten im Laufe der Zeit, so dass die Haut durchlässiger für UV-B-Strahlung wurde. Eine Vitamin-D-Depotbildung in der Unterhautfettschicht ermöglichte, dass eine gewisse Vitamin-D-Reserve für den mitteleuropäischen Winter vorgehalten werden konnte. Wer noch nördlicher, am Polarkreis, etwa auf Grönland, Island oder an der Küste Nordnorwegens siedelte, konnte mit Seefisch, eine der reichsten Quellen von in Nahrungsmitteln vorkommendem Vitamin D, auf eine natürliche Vitamin-D-Substitution zurückgreifen.
Doch nachdem im frühen 20. Jahrhundert der Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und Knochenbildungsstörungen entdeckt wurde, griff man evolutionsergänzend zur präventiven Selbsthilfe mit Höhensonne und Lebertran, abgelöst von lifestyleverträglicheren Kurztrips auf die Kanaren oder dem alljährlichen Skiurlaub. (Höhenmeter sind für die Bildung von Vitamin D durch UV-B-Strahlung fast so wirksam wie Breitengrade in Richtung Äquator.) Und natürlich geht es auch noch einfacher: In jeder Apotheke sind mittlerweile Vitamin-D-Tabletten rezeptfrei erhältlich.
Aber warum ist man hier überhaupt auf Eigeninitiative angewiesen? In den USA und in vielen anderen Ländern wird Vitamin D der Nahrung zugesetzt. Nicht so in Deutschland. Denn nach der offiziellen Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie ist die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten nur in ärztlich begründeten Fällen (hiermit sind ossäre Erkrankungen wie etwa Osteoporose gemeint) notwendig. In einer Pressemitteilung der DGE von 2011 heißt es: "Dass ein Vitamin D-Mangel auch Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfall, Immunerkrankungen oder Krebs begünstigt, ist bislang noch nicht erwiesen. Hierfür gibt es lediglich Hinweise aus tierexperimentellen, epidemiologischen und Observationsstudien. Die Ergebnisse von Interventionsstudien bei Menschen liefern bisher keine Beweise für derartige extraossäre Wirkungen von Vitamin D. Eine Vitamin D-Gabe ist daher bei diesen Erkrankungen medizinisch nicht begründbar." Heute, über ein Jahrzehnt später, ist man sich nicht mehr ganz so sicher. Tatsächlich ist die diesbezügliche Forschungslage mindestens unübersichtlich zu nennen. Und dies bei wachsendem Interesse. Eine großangelegte doppelverblindete, randomisierte Studie aus den USA ("VITAL") mit 25.000 Teilnehmern konnte zwar 2018 nach einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 5,3 Jahren keine signifikanten Präventionseffekte für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen feststellen. Dennoch wird eine prophylaktische Wirkung von Vitamin D auf Autoimmunerkrankungen etwa: Multiple Sklerose) wie auch eine regelmäßige Einnahme von Vitamin-D-Tabletten im Winter zur Erkältungsprophylaxe immer noch kontrovers diskutiert. Wirklich eindeutige Studienergebnisse - ob pro oder contra - liegen hier meines Wissens noch nicht vor.
Zurück zu unserem Thema in engeren Sinne:
Seit längerem ist bekannt, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln zum Zeitpunkt der Diagnose indolenter B-Zell-Lymphome und einem schlechteren Gesamtüberleben unter Therapie gibt. Eine gängige Erklärung hierfür ist, dass sich eine Vitamin-D-Insuffizienz negativ auf den Behandlungserfolg auswirkt, weil sie die durch Rituximab induzierte Zytotoxizität mindert. Rituximab ist seit etwa der Jahrtausendwende ein fester Bestandteil der medikamentösen Lymphomtherapie und nichts liegt daher näher, als ein festgestelltes Vitamin-D-Defizit bei Lymphompatienten noch vor Behandlungsbeginn durch Supplementierung zu beheben. Da Vitamin D-Präparate, wie gesagt, nicht einmal rezeptpflichtig sind, reicht ein Abstecher zur nächsten Apotheke hierfür aus.
Doch ist ein niedriger Vitamin D-Spiegel wirklich ein so leicht (und kostengünstig) modifizierbarer Risikofaktor oder vielleicht einfach nur ein Marker für Krankheit und Komorbidität? Um diese Frage zu klären, wurde jetzt (endlich) eine doppelt verblindete Phase III-Studie mit oralem Cholecalciferol (einem Vitamin-D-Präparat) vs. Placebo über drei Jahre bei Patienten mit indolenten Lymphomen durchgeführt, die mit einer Rituximab-Monotherapie behandelt wurden.
Jonathan W. Friedberg et al., A Phase III Double Blind, Randomized Trial Evaluating Vitamin D (Cholecalciferol) in Patients with Low Tumor-Burden Indolent Non-Hodgkin Lymphoma Treated with Rituximab Therapy. Abstract zum Vortrag auf dem Kongress der American Society of Hematology am 10.12.2023 in San Diego.
Das Ergebnis ist jedoch insgesamt enttäuschend: In dieser placebokontrollierten klinischen Phase-III-Studie wurde kein statistisch signifikanter Nutzen einer Vitamin-D-Supplementierung bei Patienten mit indolenten Lymphomen beobachtet, die allein mit Rituximab behandelt wurden. Und dies auch nicht in einzelnen Patientengruppen (also etwa: Männer/Frauen, U65/Ü65). Allerdings schnitt, beruhigenderweise, die 'Vitamin-D-Gruppe' auch nicht schlechter ab. Aber was heißt das nun für die Praxis?
Zumindest erst einmal, dass eine Vitamin-D-Supplementierung bei Vitamin-D-Mangelzuständen keine Wunder in der Therapie indolenter Lymphome bewirkt und man sie deshalb auch nicht erwarten darf. Doch wenn man an einer Stelle nichts findet, heißt das nicht, dass man nicht an einer anderen mit Aussicht auf Erfolg suchen könnte. So wird etwa für eine bessere Verträglichkeit von Chemotherapie unter Vitamin-D-Substitution zumindest anekdotische Evidenz reklamiert. Sollten die Wirkungen einer Vitamin-D-Supplementierung tatsächlich breiter gestreut sein als in dieser speziellen Studie untersucht (ein schlagender Beweis dafür steht, wie gesagt, allerdings noch aus), dann spricht - zumal, wenn die Therapie im Laufe des Winters durchgeführt wird - zumindest nichts dagegen, an dieser Stelle vorsichtshalber etwas 'nachzuhelfen'.
Zum Abschluss jedoch noch eine Warnung: aufgrund der Gefahr einer Hyperkalzämie sollten Vitamin-D3-haltige Präparate 'auf eigene Faust' nicht längerfristig in exzessiven Dosierungen angewendet werden. Als unproblematische Aufnahmehöchstmenge von supplementiertem Vitamin D werden für Erwachsene 50 µg/Tag (2.000 IE täglich) angesehen.
Studie des Monats: Februar 2024
Es gibt zuweilen Neuigkeiten aus der Krebsforschung, insbesondere Erfolgsmeldungen aus dem Bereich der Medikamentenentwicklung, die eigentlich unter dem offenkundig problematischen Titel der "Einzelfallstudien" gelistet werden müssten. Wenn sich zudem eine solche Einzelfallstudie letzten Endes als Pressemitteilung desjenigen Pharmaunternehmens herausstellt, dessen Medikament in dieser Studie getestet wird, dann sollte man mindestens zweimal hinsehen. Denn in der Wissenschaft gilt: ein Beispiel ist kein Beweis. Es ist deshalb kein unmittelbarer Beleg für die Qualität eines Medikaments, dass es dem Nachbarn der Schwägerin geholfen haben soll.
Trotzdem gibt es - allerdings gleichwohl mit Vorsicht zu betrachtende - Ausnahmen, die eine etwas wohlwollendere Aufnahme verdienen.
Pressemitteilung der PeproMene Bio, Inc zur laufenden Phase I-Studie mit BAFF-R-CAR T-Zellen bei Non-Hodgkin-Lymphomen (NCT05370430)
Wenn ein (gänzlich) neues Verfahren das erste Mal in der klinischen Praxis erfolgreich getestet wird, ist das schon eine gewisse Aufmerksamkeit wert. Hier liegt, mit Einschränkungen, ein solcher Fall vor. Zwar wird ein mittlerweile bewährtes Konzept (CAR-T-Zelltherapie) verwendet, aber deren spezifischer Ansatzpunkt (das 'angegriffene' Oberflächenprotein) ist neu. Es handelt sich um BAFF-R (B-Cell-Activating Factor-Receptor). Mit dem in der Studie getesteten Therapeutikum PMB-CT01 hat, ohne schwerwiegende Nebenwirkungen, ein erster, stark vorbehandelter MCL-Patient eine zum Zeitpunkt der Pressemitteilung noch anhaltende tiefe (MRD-negative) Vollremission erreicht. Das heißt zwar noch nicht viel für den letztlichen Ausgang der Studie (die zudem, als Phase I-Studie, hauptsächlich mit der Verträglichkeit des getesteten Medikaments bzw. Verfahrens befasst ist) - aber dennoch sollte man die weitere Entwicklung in puncto BAFF-R CAR T-Cell im Auge behalten.
Denn mittlerweile hat sich herausgestellt, dass die mit den zuerst entwickelten CD19 CAR T-Zelltherapien erreichten Remissionen in vielen Fällen weniger stabil sind als zunächst angenommen. Dazu kommt, dass man auf eine Minimierung der doch teilweise erheblichen Nebenwirkungen von CAR T-Zelltherapien abzielt. Für beide Problemfelder gibt es theoretisch mehrere Lösungswege und einer davon besteht darin, einen anderen (oder auch zusätzlichen) 'Effektor' bei Mantelzellymphomen als das Oberflächenprotein CD19 für die entsprechend modifizierten T-Zellen zu finden. Der hierfür naheliegendste und mittlerweile auch klinisch bereits getestete Ansatz ist es, CD20 (das auch das Angriffsziel für den monoklonalen Antikörper Rituximab ist) 'unter Beschuss' zu nehmen. Auch eine Doppelstrategie (CD19/CD20) wird zur Zeit erprobt. Neu, und vor allem im Hinblick auf die häufigen Fälle von 'Antigenflucht' konzipiert (CD19/CD20 werden durch entsprechende Mutationen nicht oder nicht mehr ausreichend exprimiert), sind ROR1 und jetzt eben auch BAFF-R als effektive Ziele hinzugekommen, in Zukunft vielleicht auch in Kombinationsstrategien. Wenn man bedenkt, dass CAR T-Zelltherapien erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit Eingang in die Behandlung von MCL gefunden haben, ist, was deren Optimierung angeht, noch viel 'Luft nach oben'. Zwar dürften - gegebenenfalls - noch 5-10 Jahre vergehen, bis ROR1 oder BAFF-R CAR T-Zelltherapien in auch in Deutschland durchgeführten Studien und dann auch in der klinischen Praxis allgemein zugänglich sein werden - für neu diagnostizierte Mantelzelllymphompatienten sollte das aber eine ausreichend gute Nachricht sein.
Studie des Monats: Januar 2024
Der Beginn des neuen Jahres ist die Zeit der guten Vorsätze. Wir hätten da einen Vorschlag: wie wäre es mit ein wenig mehr körperlicher Bewegung? Unsere "Studie des Monats: Januar" wird zeigen, warum das gerade für "Mantelzeller" eine gute Idee ist.
Wir betreten hiermit das weite Feld der Supportivmedizin bzw. -onkologie, also derjenigen Maßnahmen, die therapieunterstützend vom Patienten selbst durchgeführt werden können. Und wenngleich diese Maßnahmen auch Entspannungsübungen und Sonnenbäder umfassen können, sind doch zwei Bereiche klar dominierend: gesunde Ernährung und körperliche Bewegung bzw. Sport. Interessanterweise lenkt der größte Teil der Krebspatienten seine Aufmerksamkeit vor allem auf Ernährungsfragen, obwohl diese vor allem in der Krebsprävention eine Rolle spielen. Es ist ein wenig so, als ob man, nachdem bereits eingebrochen wurde, sich eine Alarmanlage kaufen würde. Wir werden sehen, dass eine Beschäftigung mit der eigenen körperlichen Fitness nach einer Krebsdiagnose - und das insbesondere bei Lymphomen und Leukämien - weitaus effektiver ist.
Lavery, J. A. et al: "Pan-cancer analysis of postdiagnosis exercise and mortality" sowie der Zusatzartikel von Kenfield, S. A.; Chan, J. M., "Meeting Exercise Recommendations Is Beneficial for Cancer Survivors" in: Journal of Clinical Oncology, Vol. 41, Number 32 (2023).
Man kann so einiges Kritisches in methodischer Hinsicht zu dieser Langzeitstudie sagen, die über die nachträgliche Auswertung von (sehr umfangreichen) Datensätzen in den USA zustande gekommen ist. Etliche Probleme, insbesondere die naheliegende Vermutung, dass mit den körperlich aktiven von vornherein die fitteren und auch in anderer Hinsicht gesundheitsbewussteren Krebspatienten ausgewählt werden (Wirkungen also mit Ursachen verwechselt werden), konnten zwar durch Ausschlusskriterien minimiert, aber - auch aus prinzipiellen Gründen - nicht grundsätzlich beseitigt werden. Wir haben hier also keine vollwertige Vergleichsstudie vor uns und die Autoren bemühen sich auch gar nicht, deren Schwächen zu bemänteln. Trotzdem sind ihre Ergebnisse als aufschlussreich zu bezeichnen - auch weil sie den Blick auf einen 'blinden Fleck' von Krebspatienten lenken. Denn das zentrale Ergebnis der Studie, eine 25%-ige bzw. 35%-ige Steigerung des Gesamtüberlebens bei, sagen wir verkürzend: nennenswerter, regelmäßiger physischer Aktivität gegenüber wenig ausgeprägter, unregelmäßiger Aktivität bzw. Inaktivität, bezieht sich auf Langzeitpatienten, bei denen nur etwa die Hälfte der Todesfälle auf die ursprüngliche Krebserkrankung entfällt. Und genau dieser Umstand macht die Ergebnisse der Studie auch plausibel: die verhinderten Todesfälle durch regelmäßige Bewegung oder Sport sind nämlich vor allem diejenigen aus der Rubrik der "sonstigen Ursachen". Zwar finden sich bei zwei Krebserkrankungen (Nierenkrebs und Krebs im Kopf- und Halsbereich) auch signifikante Korrelationen zwischen physischer Aktivität und krankheitsspezifischem Überleben (warum auch immer?), aber bei allen anderen Krebserkrankungen geht es bei nennenswerter regelmäßiger physischer Aktivität eher um die Verhinderung "sonstiger Todesursachen". Insbesondere bei hämatologischen Erkrankungen, bei Lymphomen und Leukämien, ist dies der Fall. Warum? Einen eindeutigen Grund hierfür liefert die Studie nicht, dazu sind auch die supportiven Wirkungen physischer Aktivität auf den menschlichen Körper zu vielfältig. So kann man neben der Erhaltung der Herz-Kreislauf-Gesundheit etwa auch auf eine verbesserte Immunabwehr und antidepressive Effekte verweisen. [Eine differenzierte Darstellung findet sich in: Cécile Torregrosa, Physical Activity as the Best Supportive Care in Cancer. The Clinician’s and the Researcher’s Perspectives, in: Cancers 2022, 14 (21)].
Für MCL-Patienten lassen sich zwei miteinander verbundene Dinge herausstellen: zum Ersten ist die (insbesondere chemotherapeutische) Medikation bei Lymphomen und Leukämien mit vergleichsweise starken Nebenwirkungen und zum Teil leider auch dauerhaften organischen Einschränkungen verbunden. Deshalb spielt bei MCL insbesondere der Erhalt von Fitness im Herz-Kreislauf-Bereich für das "overall survival" eine hohe Rolle. (Schon in der Normalbevölkerung stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen an der Spitze der Todesursachen.) Wenn es bei manchen Krebserkrankungen heißt: "man stirbt nicht am, sondern mit dem Krebs", ist das - bei hohem durchschnittlichen Erkrankungsalter und signifikanten Fortschritten in der Therapie - zwar auch für das Mantelzelllymphom eine häufig zutreffende Aussage - aber gerade deshalb kein Grund, sich ruhig zurückzulegen. Ganz im Gegenteil!
Studie des Monats: Dezember 2023
Dieses Mal soll es um eine - meiner Meinung nach immer noch unterschätzte - Behandlungsstrategie für MCL-Patienten gehen: "watch-and-wait" oder "watchful waiting". Hierbei handelt es sich um ein "kontrolliertes (einstweiliges) Abwarten", dem Außenstehende oft mit Unverständnis begegnen, weil sie fälschlicherweise davon ausgehen, dass nur ein rasches Handeln die verhängnisvolle Metastasierung maligner Tumore verhindern könne. Das Konzept der "Metastasierung" lässt sich jedoch auf maligne Lymphome nicht gut anwenden und auch das bei Leukämien und Lymphomen ersatzweise benutzte "Staging nach Ann Arbor (Stadien 1-4)" sagt weniger über tatsächliche Überlebenschancen aus, als man zunächst denken könnte. "Aktives Abwarten" wirkt vielleicht kontraintuitiv, aber ist für MCL unter bestimmten Umständen durchaus eine Option. Schon seit langem gilt dies ja bei zwei weitaus häufigeren Lymphomarten, dem follikulären Lymphom (FL) und der chronisch-lymphatischen Leukämie (CLL). Dass die Dinge beim Mantelzelllymphom scheinbar anders liegen, hat vor allem historische Gründe. Um diese zu benennen, muss man aber nicht allzuweit in die Vergangenheit zurückgehen. Denn erst im Jahre 1992 (!) konnte man sich darauf verständigen, dass Non-Hodgkin-Lymphome mit bestimmten histopathologischen Eigenheiten - unter der Bedingung, dass sie die zytogenetische Besonderheit t(11;14)(q13;q32) aufwiesen - fortan als eine eigene Entität mit dem Namen "Mantelzelllymphom" benannt wurden. Zwar tritt diese zytogenetische Besonderheit auch ausnahmsweise in anderen Lymphomarten auf (etwa beim Multiplen Myelom) und es gibt auch (ausnahmsweise) MCL-Fälle, bei denen die Translokation (11;14) nicht nachweisbar ist. Dennoch wurde die Diagnose "MCL" durch den Einbezug und die Betonung einer charakterisierenden genetischen Besonderheit treffsicherer, als es die bis dahin rein histopathologisch basierte Bezeichnung als "zentrozytisches Lymphom" sein konnte.
Allerdings stellte sich die Diagnose "MCL" im Laufe der letzten 30 Jahre als Sammelbegriff für eine Krankheit heraus, die wesentlich vielfältiger (und in vielen Fällen weniger aggressiv) ist, als man zunächst gedacht hatte.
Mittlerweile können beim MCL zwei pathogenetisch grundlegend verschiedene Subtypen unterschieden werden: Das „klassische“ Mantelzelllymphom zeichnet sich durch vor allem nodale und extranodale Manifestationen und einen verhältnismäßig aggressiven Krankheitsverlauf aus. Die variable Region des IGH Locus (IGHV) ist nicht mutiert und SOX11 ist positiv. Das klassische MCL kommt in mehreren Varianten vor, die sich - über die 'Normalvariante' hinaus - histopathologisch als kleinzelliges (ca. 5%), blastisches (ca. 10%-20%) und pleomorphes MCL (ca. 5%) unterscheiden lassen.
Der zweite Subtyp (ca.10%-20%) zeichnet sich durch einen eher leukämischen und indolenten Verlauf aus ("CLL-like MCL", da früher oft als chronisch-lymphatische Leukämie mit eher ungünstiger Verlaufsform fehldiagnostiziert). IGHV ist hier in aller Regel mutiert und SOX11 negativ.
So weit, so gut. Sollte man nicht annehmen, dass aus dieser Unterteilung, die ja unterschiedliche Krankheitsverläufe nahelegt, sich auch therapeutische Konsequenzen ziehen ließen? Dies ist leider nur bedingt der Fall. Verlaufsformen, die für ein "watch and wait"-Vorgehen qualifizieren, gibt es nämlich auch über den "indolenten", leukämischen MCL-Subtyp hinaus. Vergeblich allerdings bisher die Suche nach demjenigen zusätzlichen Merkmal des "klassischen" MCL, das die therapeutische Empfehlung "watch and wait" zweifelsfrei nahelegen würde. Bisher hat man lediglich ein Bündel an 'Indizien' geschnürt, wie sie etwa die Arbeit von Panruo Jiang et al. "Progress in molecular feature of smoldering mantle cell lymphoma", in: Experimental Hematology & Oncology (2021, 10, Artikel 41) auflistet: "low Ki-67 index, CD200 positivity, a low frequency of mutations in TP53, a lack of SOX11, normal arrangement and expression of MYC, IGHV mutations, differences from classical MCL by L-MCL16 assays and MCL35 assays, an unmutated P16 status, few defects in ATM, no NOTCH1/2 mutation, Amp 11q gene mutation, no chr9 deletion, microRNA upregulation/downregulation, and low expression of several genes that have been valued in recent years (SPEN, SMARCA4, RANBP2, KMT2C, NSD2, CARD11, FBXW7, BIRC3, KMT2D, CELSR3, TRAF2, MAP3K14, HNRNPH1, Del 9p and/or Del 9q, SP140 and PCDH10)." Nichts davon eindeutig beweisend und im besten Fall (als Ausschlussdiagnostik) für eine therapeutische Entscheidung auch nur bedingt hilfreich. Was aber führt dann dazu, ein Mantelzelllymphom im Zweifelsfall als "indolent" zu bezeichnen? Oft nichts anderes als der verhältnismäßig günstige, d.h. längere Zeit behandlungsunbedürftige Krankheitsverlauf, der auch von einem "schwelenden" oder "glimmenden" Mantelzelllymphom ("smoldering MCL") sprechen lässt. Tatsächlich muss bei Abwesenheit klinisch relevanter Symptome eine Zeit lang abgewartet werden, ob ein aggressiver Verlauf einsetzt. Ist dies nicht der Fall, kann eine länger andauernde "watch and wait"-Strategie greifen.
Wieviele MCL-Patienten fallen in diese Kategorie? Hier variieren die Angaben stark - sie reichen von 10% - 30% (bei Frauen: 40%). Und genau hier liegt der Kern eines Problems: da man erst einmal (eine gewisse Zeit) abwarten muss, um zu entscheiden, ob man (weitere Zeit) abwarten kann, geht man damit das Risiko ein, zu lange mit einer Therapieentscheidung gezögert zu haben. Das gilt auch im Weiteren: es gibt variierende Vorstellungen darüber, wann der 'richtige Zeitpunkt' ist, ein "watch-and-wait" zugunsten einer Therapie abzubrechen. Einig ist man sich lediglich darin, dass man diesen Zeitpunkt unter Umständen verpassen kann. Doch selbst in einem solchen Fall kann man nicht sicher sagen, dass dieser nicht auch unter Therapie eingetreten wäre.
Eine "Watch-and-wait-Strategie" beinhaltet also ein hohes Maß an Unsicherheit und Verantwortungsübernahme. Das gilt für beide Seiten: den behandelnden Arzt und den Patienten. Vor allem für Patienten (aber auch für Ärzte), die 'nichts falsch machen wollen', ist diese Strategie psychisch zu belastend und (daher) ungeeignet. Denn bei (allmählich) zunehmender Tumorlast besteht durchaus das ebenfalls zunehmende Risiko spontaner Mutationen, die ein sMCL in eine aggressivere Verlaufsform übergehen lassen können. Diesem Risiko steht gegenüber, dass eine zu aggressive oder zu frühe Therapie zu vermeidbaren Einbußen an Lebensqualität führt und dass auch der insbesondere durch Chemotherapien hervorgerufene Selektionsdruck weitere Mutationen - zu einer aggressiveren Verlaufsform des MCL oder aber auch andere (Sekundär-)Tumore - auslösen kann. Immerhin zeigen Studien, dass ein durch "watch and wait" verzögerter Behandlungsbeginn gegenüber einer unmittelbar behandelten Vergleichsgruppe (vermutlich größtenteils mit aggressiverem Krankheitsverlauf) ein besseres Ergebnis im Gesamtüberleben erzielt. Doch ob "smoldering MCL"-Patienten mit einer unmittelbaren Therapie vielleicht besser gefahren wären als mit einer "Watch-and-Wait-Strategie", lässt sich nicht eindeutig sagen. Diesbezüglich unterschiedliche Einschätzungen und Empfehlungen der Ärzte erklären möglicherweise auch die Bandbreite der in der Literatur variierenden prozentualen Anzahl von sMCLs, denn - zur Erinnerung - nur derjenige, der de facto eine "watch and wait"-Strategie wählt, gilt de jure als sMCL-Patient.
Behandeln oder erst einmal abwarten? Einen interessanten 'Mittelweg' beschreitet die folgende von mir im Dezember 2022 (in anderer Hinsicht) besprochene Studie, für die jetzt ein Follow-up vorliegt:
E. Giné et al., Five-year update of the first-line IMCL-2015 GELTAMO Study, in: Hematological Oncology, Volume 41, Issue S2, p.148-150.
Es handelt sich hier um die erste größere Studie, die ausschließlich Teilnehmer mit indolentem Mantelzelllymphom (iMCL) rekrutierte. Wenngleich die grundsätzliche Qualifikation für die Teilnahme an der Studie lediglich darin bestand, drei Monate nach Diagnose noch behandlungsunbedürftig zu sein, wurden so doch zumindest von Beginn an auch stark aggressive MCL-Verlaufsformen ausgeklammert (kein blastisches MCL, Ki-67 nicht >30 %, Lymphknoten nicht >3 cm Durchmesser). Die Studie versucht sich einer Antwort auf die Frage anzunähern, ob iMCL in der Erstlinie chemotherapiefrei behandelt werden kann bzw. sollte. Die Messlatte für eine Antwort mit einem eindeutigen "Ja" liegt hier hoch: der 'Klassiker' der chemotherapiefreien Behandlung, die Kombination Rituximab + Lenalidomid (R²) erzielt schon bei cMCL-Patienten sehr gute Ergebnisse (vgl. die "Studie des Monats Oktober 2023"). Und andererseits erreichte die Untergruppe der "low risk-Patienten" (vermutlich größtenteils iMCLs) in der LYMA-Studie (4 x R-DHAP + ASCT + 3 Jahre Rituximab-Erhaltung) eine Progressionsfreiheit von deutlich über zehn Jahren. Mit diesen Ergebnissen kann die GELTAMO-Studie (mit einem PFS von sechs Jahren) zwar nicht ganz mithalten - allerdings ist zu berücksichtigen, dass ihr Ergebnis zustande kam, obwohl keine Erhaltungstherapie mit Rituximab gegeben wurde und der größte Teil der Studienteilnehmer (ein Novum in der Behandlung von MCL) Ibrutinib nicht länger als zwei Jahre erhielt. Negative Folgen dieser Therapieentscheidung blieben (bisher) weitgehend aus. Von den 32 Patienten, die Ibrutinib (bei Nachweis von MRD-Negativität) absetzen konnten, sind immerhin noch 20 Patienten (63%) weiterhin MRD-negativ und nur bei 6 Patienten trat bisher ein Progress auf. Die Frage, ob es - jedenfalls für MRD-negative iMCL-Patienten - möglich ist, eine Therapie mit Ibrutinib in der Erstlinie ohne Nachteile zu stoppen, kann insofern mit einem vorsichtigen "Ja" beantwortet werden.
Auch dürfte die Vermutung nicht abwegig sein, dass auf der Grundlage einer vergleichsweise milden Erstlinientherapie eine deutlich längere Progressionsfreiheit in den folgenden Behandlungslinien (als etwa nach einer Chemoimmuntherapie mit ASCT) zu erwarten steht - und damit das bisherige doch hohe durchschnittliche Gesamtüberleben (80% nach 7½ Jahren) in dieser iMCL-Studie nach weiteren Follow-ups nicht deutlich unter die Werte der von mir zuvor angeführten Vergleichsstudien fällt. Wie so häufig gilt es - diesmal immerhin passend zu unserem Thema "watch and wait" - abzuwarten.
Studie des Monats: November 2023
BiTEs (Bispecific T-Cell-Engagers) sind eine weitere, relativ neue Option in der Therapie von rezidivierendem oder refraktärem MCL. BiTE-Antikörper binden einerseits an ein Oberflächenprotein der T-Zellen (CD 3), andererseits an ein Zielmolekül, das (auch) auf MCL-Zellen exprimiert wird, etwa CD19 oder CD20. Bei dieser Form spezifisch vermittelter Immunabwehr gibt es gewisse Nähen, allerdings auch Unterschiede zum Wirkprinzip der CAR-T-Zelltherapie. Gemeinsam ist beiden etwa, dass sie auch dann noch wirksam sind, wenn (gewöhnlich in der Zweitlinie eingesetzte) BTK-Inhibitoren versagen.
Eine weitere, allerdings unerfreuliche Gemeinsamkeit beider Therapien ist ihre relativ hohe Toxizität. Eine hohe Bedeutung für den Einsatz von BiTEs in der Praxis dürfte daher insbesondere ein erfolgreiches Management des Zytokinfreisetzungssydrom (CRS) gewinnen, das als sehr häufige und gefährliche Nebenwirkung beim Einsatz von BiTEs auftritt. Und in dieser Hinsicht erzielt die hier besprochene Phase 1/2-Studie mit dem CD3xCD20-BiTE Glofitamab nicht nur einen (relativen) Erfolg, sondern auch einen interessanten Zusatzeffekt.
Phillips, T., Dickinson, M., Morschhauser, F., et al. Glofitamab monotherapy induces high complete response rates in patients with heavily pretreated relapsed or refractory mantle cell lymphoma. Presented at the 2023 Society of Hematologic Oncology (SOHO) Annual Meeting; September 6–9, 2023; Houston, TX. Abstract MCL-467.
Das in dieser Studie getestete Glofitamab hatte einen sehr hohen Grad an Wirksamkeit, so wie ihn auch schon der erste bei r/r MCL eingesetzten CD3xCD19-BiTE, Blinatumomab, zeigte. Tatsächlich sind die erzielten Werte für Glofitamab wohl noch ein wenig besser. Der wahrscheinliche Grund hierfür liegt in einer Besonderheit des Studiendesigns: die Studie testet - gewissermaßen durch die Hintertür - in Wahrheit eine (wirkungsvollere) Kombinationstherapie, die paradoxerweise aber weniger Nebenwirkungen - jedenfalls im CRS-Management - als eine Monotherapie hervorruft. Das funktioniert, weil das Wirkprinzip beider verwendeter Substanzen (Glofitamab und Obinutuzumab) zumindest ähnlich ist und so, obwohl dadurch die akkumulierte Dosis ansteigt, diese jedoch in schonenderer Weise, nämlich sukzessive, zum Einsatz kommt. Für die antitumorale Wirkung aber addieren sich die Effekte der verwendeten Substanzen.
Das zeigt sich eindrucksvoll in der Gruppe der Patienten, die eine Vorbehandlung mit einer hohen Dosis des monoklonalen CD20-Antikörpers Obinutuzumab (2000 mg) erhielten. Hier gab es eine Ansprechrate von 90,5% und eine Komplettremission bei 81% der Studienteilnehmer. (Bei einer Vorbehandlung mit 1000 mg waren es lediglich 75% und 62,5%.)
Ein hoher Prozentsatz der Studienteilnehmer war mit BTK-Inhibitoren vorbehandelt worden und auch hier ließ sich der oben beschriebene Effekt beobachten, je nachdem, wie hoch die Dosierung von Obinutuzumab in der Vorbehandlung war. Bei einer Dosis von 1000 mg lag die Ansprechrate bei 63,6% und die Rate der Komplettremissionen bei 54,5%. Wurden hingegen 2000 mg Obinutuzumab vorab verabreicht, stiegen die Werte auf 84.6% and 76.9% an.
Das klingt erst einmal nach vielversprechenden Behandlungsergebnissen - allerdings lässt sich über die Langzeiteffekte noch zu wenig sagen. Immerhin ist eine herstellerfinanzierte Phase-3-Studie zu Glofitamab in r/r MCL in Planung, was darauf schließen lässt, dass seitens des Herstellers (Genentech) mit langanhaltenden Remissionen und - wie wir hinzufügen dürfen - einer erfolgreichen Vermarktung gerechnet wird. Ob nun Glofitamab tatsächlich den erhofften Stellenwert eines "game changers" in der Therapie des BTK-Inhibitor-resistenten MCL annehmen kann, bleibt abzuwarten. Die Goldgräberstimmung im Bereich der Immuntherapien aber sollte jedenfalls anhalten. Weitere klinische Studien zu BiTEs dürften daher im Dezember 2023 auf dem jährlichen Kongress der "American Society of Hematology" vorgestellt werden. Und, ähnlich wie bei CAR-T-Zelltherapien, wird es dabei wohl nicht nur um Fragen der (vordergründigen) Wirksamkeit gehen, sondern auch um die Minderung und das erfolgreiche Management von Nebenwirkungen. Unter Bezugnahme hierauf wird sich in den nächsten Jahren besser einschätzen lassen, an welcher Stelle der Therapieverlaufs BiTEs am sinnvollsten eingesetzt werden können.
Erfahrungen mit dem ersten bei r/r MCL verwendeten CD3xCD19-BiTE Blinatumomab zeigen jedenfalls, dass auch bei Patienten, die bereits mit einer CAR-T-Zelltherapie vorbehandelt waren, mit BiTEs immer noch gute Erfolgsaussichten bestehen. Für CD3xCD20-BiTEs wie Glofitamab oder Epcoritamab dürfte das ebenfalls gelten.
Studie(n) des Monats: Oktober 2023
Wieder einmal ein Follow-up, diesmal mit neun Jahren Beobachtungszeit im Anschluss an eine chemotherapeutikafreie Erstlinientherapie:
Samuel Yamshon et al., Nine-year Follow-up of Lenalidomide Plus Rituximab as Initial Treatment for Mantle Cell Lymphoma, in: Blood advances, September 8, 2023.
Diese Studie bezieht sich auf den 'Klassiker' der chemotherapiefreien Behandlung von MCL, eine Kombination von Rituximab und Lenalidomid (häufig mit R² oder LR abgekürzt), gefolgt von einer Erhaltungstherapie. Auch wenn in jüngerer Zeit eher Kombinationen wie Ibrutinib und Rituximab (IR), Ibrutinib und Venetoclax (IV) oder auch Dreifachkombinationen (IRV) getestet wurden, lohnt sich doch der Blick zurück auf die 'historische' Vorläuferstudie. Denn die kurzgefassten Ergebnisse ihres 9-jährigen Follow-ups (OR bei 92%, CR bei 66%, PFS bei 51%, OS bei 66%) zeigen, dass bereits R² ohne weiteres mit Chemotherapien (ohne Stammzelltransplantation) mithalten kann - und zusätzlich zeigt die Studie, dass eine optionale Beendigung der LR-Erhaltung nach 3 Jahren bei MRD-Negativität ohne Nachteile für PFS oder OS möglich war.
Leider war die Studie mit 36 Personen verhältnismäßig klein und zusätzlich fällt zu Ungunsten ihrer Repräsentativität auf, dass an ihr keine Patienten mit blastischer odet pleomorpher Zytologie teilnahmen. Andererseits starb ein Patient an einer Covid-19-Infektion und zwei weitere stoppten aufgrund der Befürchtung einer Infektion die Erhaltungstherapie, so dass man alles in allem sagen kann, dass die Zahlen zu PFS und OS zumindest keineswegs gänzlich 'aus der Luft gegriffen' erscheinen. Als Empfehlung für eine zusätzliche Option für eine Erstlinientherapie zumindest bei indolenten Patienten dürfte es reichen.
Doch sehen wir noch ein wenig über den Tellerrand hinaus. In der PDF-Fassung der besprochenen Studie werden zusätzlich Kurzergebnisse mehrerer Studien aufgelistet, die unterschiedliche chemotherapeutikafreie Kombinationen testen, darunter auch zwei der von mir besprochenen "Studien des Monats Dezember 2022", deren Ergebnisse allesamt vielversprechend sind. Dennoch fehlt hier noch ein längeres Follow-up, das in der R²-Studie hingegen vorliegt, was sie zum einstweiligen Kronzeugen dafür macht, wenn es um die Frage nach der letztlichen Effektivität chemotherapeutikafreier Erstlinientherapien geht.
Steht die Chemotherapie in der MCL-Erstlinienbehandlung schon bald vor ihrer Ablösung? Möglicherweise. Denn zur Zeit laufen auch zwei Phase-III-Studien: ENRICH und MANGROVE (ISRCTN11038174/ NCT04002297), die im direkten Vergleich die Effizienz eines BTK-Inhibitors (Ibrutinib bzw. Zanubrutinib) plus Rituximab mit einer Chemoimmuntherapie überprüfen.
Während die Ergebnisse dieser Studien allerdings noch ausstehen, wollen wir einen weiteren Blick auf eine zur Zeit ebenfalls noch laufende Studie zu werfen, die den Vergleich Chemoimmuntherapie vs. chemotherapeutikafreie Therapie auf die (vorläufige) Spitze treiben könnte.
Venetoclax, Ibrutinib, Prednisone, Obinutuzumab, and Revlimid (ViPOR) in Relapsed/Refractory B-cell Lymphoma. ClinicalTrials.gov ID NCT03223610
Unter dem Akronym "ViPOR" wurde hier so ziemlich alles, sagen wir einmal leger: 'zusammengekippt', was sich bisher im Rahmen chemotherapeutikafreier Medikation bewährt hat. Man hat im Grunde immer schon darauf gewartet. Und es gibt auch schon Zwischenergebnisse einer kleinen r/r-Mantelzelllymphom-Kohorte von 13 Teilnehmern (von denen allerdings nur 11 in die Auswertung gelangten). Doch 100% Ansprechrate bei 80% Komplettremissionen sind sicherlich ein vielversprechender Anfang. Weitere Zwischenergebnisse, etwa in einer Präsentation auf dem ASH im Dezember 2023, werden zeigen, wie dauerhaft diese Remissionen sind. Eine gute Nachricht in jedem Fall ist, dass sich die Toxizität des ViPOR-Schemas als niedriger als erwartet herausstellte. Und das lässt Raum für die Vermutung, dass über kurz oder lang noch ein oder zwei weitere Inhibitoren (-ib) oder monoklonale Antikörper (-mab) einem chemotherapeutikafreien Cocktail hinzugefügt werden könnten, ohne dass damit dessen Toxizität die einer Chemoimmuntherapie übersteigen sollte.
Die heißesten Kandidaten hierfür wären zur Zeit - ohne Anspruch auf Vollständigkeit -
PI3K-Inhibitoren (etwa: Idelalisib), CDK4/6-Inhibitoren (etwa: Palbociclib), PARP-Inhibitoren (etwa: Olaparib), mTOR-Inhibitoren (etwa: Temsirolimus), Proteasom-Inhibitoren (etwa: Bortezomib), HDAC-Inhibitoren (etwa: Vorinostat), ROR1-monoklonale Antikörper (etwa: Zilovertamab). Dazu kommt, dass demnächst verbesserte BTK-Inhibitoren anstelle von Ibrutinib in Kombinationstherapien verwendet werden dürften, etwa Zanubrutinib oder Pirtobrutinib.
Allerdings: welche der genannten (oder weiterer) Substanzen letztlich zum Einsatz kommen werden, lässt sich kaum absehen, da neben erwarteten positiven Kombinationseffekten immer auch - und hier gilt das Prinzip "trial and error" - mit einer unerwarteten inakzeptablen Toxizität gerechnet werden muss.
Aus diesem Grund wohl verzichtete die ViPOR-Studie vorsichtshalber auch auf jede Form zusätzlicher Erhaltungstherapie. Sollten die erzielten Remissionen sich nun als dauerhaft herausstellen, könnte es dabei bleiben. Umso deutlicher könnte dann der Vorteil einer chemotherapeutikafreien Medikation gegenüber einer 'traditionellen' Chemoimmuntherapie nicht erst in der Zweit-, sondern auch in der Erstlinie, sichtbar werden.
Studie des Monats: September 2023
C. Sarkozy et al.: Very long-term follow-up of rituximab maintenance in young patients with mantle cell lymphoma included in the LYMA trial, a LYSA study, in: Journal of Clinical Oncology, Volume 41, Issue 16 suppl. (2023).
Manchmal sind es gar keine neuen Studien, die neue Erkenntnisse bringen, sondern das geduldige Abwarten darauf, ob aktualisierte Daten in längerfristigen "Follow-ups" frühe Evaluationen und Abschätzungen bestätigen. Zuweilen sieht man erst im Nachhinein etwas, was einer bloßen Extrapolation früher Ergebnisse entgehen musste. Der Idealfall eines solchen Langzeit-Follow-ups wäre etwa die Beobachtung in einer Therapiestudie, dass Studienteilnehmer ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt kein Rezidiv mehr erleiden, sich also ein Plateau der PSF-Kurve ausbildet. (So dass erst ein weiteres, verlängertes Follow-up genauere Auskunft darüber geben können, ob dieses Plateau nicht doch wieder in einen längerfristigen Abwärtstrend übergeht.)
Hier soll es allerdings um ein anderes Thema gehen: die genauere Bestimmung des "overall survival" (OS), die im besonderen Interesse langfristiger Follow-ups liegt. Wenn mediane Überlebenszeiten zehn Jahre deutlich übersteigen, dann kann man in kurzfristiger angelegten Vergleichsstudien zwar Prozentsätze des Gesamtüberlebens nach einem bestimmten Zeitraum angeben, aber die Unterschiede, die sich hier ergeben, sind oft weniger aussagekräftig, als es zunächst erscheint. Das längerfristige Follow-up zur Rituximab-Erhaltung (vs. Beobachtung) in der LYMA-Studie zeigt das eindrucksvoll.
Während die frühen Ergebnisse der LYMA-Studie nicht nur auf ein signifikant höheres PFS, sondern auch auf eine signifikante Lebensverlängerung schließen ließen, ziehen die aktualisierten Daten des 7-Jahre-Follow-ups eben diese Hypothese wieder in Zweifel. Allenfalls ein Trend zugunsten eines höheren OS ist noch zu erkennen. Der Grund ist einfach benannt: Wer zuvor mit Rituximab-Erhaltung behandelt wurde, hat - gegenüber der bloßen Beobachtung - nach einem Rezidiv weitaus schlechtere Überlebensaussichten (1,1 Jahre vs. 4,6 Jahre), so dass sich der (auch weiterhin existierenden) 'Vorsprung' durch längere Progressionsfreiheit bei Rituximab-Erhaltung im OS weitgehend nivelliert. Gerade weil Rezidive unter Rituximab-Erhaltung im früheren Untersuchungszeitraum verhältnismäßig selten stattfanden, konnte erst das längere Follow-up die dann schlechteren Aussichten dieser Patienten im OS nach Rezidiv - gegenüber der Vergleichsgruppe - ans Tageslicht bringen.
Diese Ergebnisse werden zumindest all diejenigen trösten, die in der Erstlinie noch ohne Rituximab-Erhaltung behandelt wurden. Einen signifikanten Überlebensnachteil haben sie dadurch nicht erlitten. Gleichwohl könnten die Ergebnisse unserer "Studie des Monats" einen differenzierteren Umgang mit der Frage "Rituximab-Erhaltung: ja oder nein" eröffnen. Eine Abwägung wird dann stärker berücksichtigen müssen, dass zugunsten eines besseren PFS und eines wahrscheinlich immer noch leichten, wenn auch nicht mehr signifikanten Gesamtüberlebensvorteils eine höhere Infektanfälligkeit unter Rituximab in Kauf zu nehmen ist. Das kann vertretbar sein, muss aber - im individuellen Einzelfall - auch gewollt werden. Die Studie betont zwar, dass aufgetretene Infekte nicht zu einem erhöhten Todesfallrisiko führten, aber betrachtet für die Immunsupression unter Rituximab-Erhaltung vor allem den Zeitraum noch vor der Corona-Epidemie... Vielleicht gäbe es aber angesichts des Dilemmas, dass Rituximab gerade dadurch wirksam ist, indem es - als eine mit der Hauptwirkung verknüpfte Nebenwirkung - eine geschwächte Immunabwehr schwächt, aber auch noch einen "Kompromissvorschlag", der auf das Behandlungsschema der 2006 veröffentlichten wegweisenden "MCL2-Studie" der Skandinavischen Lymphomgruppe zurückgeht. Nach einer immunochemischen Behandlung mit Induktion, Konsolidierung und autologer Stammzelltransplantation nach dem "Nordischen Protokoll" wurde, in Verbindung mit regelmäßigen Testungen auf "minimal residual disease" Rituximab erst im Bedarfsfall (bei beginnend messbarer MRD-Positivität) gegeben. Tatsächlich konnte so ein klinischer Rückfall durchschnittlich immerhin noch um fünf Jahre verzögert werden. Für die MRD-negativen Patienten hingegen wurde so eine Übertherapie vermieden.
"Preemptive Rituximab" wurde das Konzept damals genannt. Sie können die Qualität (und die Englischkenntnisse) ihres Onkologen daran überprüfen, ob er es kennt.
Studie des Monats: August 2023
Im Krankheitsverlauf eines Mantelzelllymphoms ist der Befall des zentralen Nervensystems (ZNS) eine ernsthafte Komplikation. Wenngleich insgesamt verhältnismäßig selten auftretend (in ca. 4% aller Fälle), steigt diese Zahl in Risikogruppen (blastischer Verlauf, KI-67 >50, tp-53 Mutation) auf über 20% an. Eine ZNS-Beteiligung wird gewöhnlicherweise eher spät im Krankheitsverlauf im Rahmen eines systemischen Rezidivs bzw. Progresses diagnostiziert, sie kann aber auch isoliert und gewissermaßen 'unerwartet' auftreten, im Durchschnitt etwa 2 Jahre nach Erstdiagnose. Noch in einer größeren retrospektiven Studie aus dem vergangenen Jahr, die einen Untersuchungszeitraum von 2000-2020 umfasst, wird die durchschnittliche Überlebenszeit ab Diagnose einer ZNS-Beteiligung mit etwa vier Monaten angegeben. Keine schönen Ausichten.
Angesichts dieser historischen Ausgangslage wirft die von uns nunmehr besprochene Studie einen Lichtstrahl auf eine 'düstere Landschaft' (als die wir die bis vor kurzem eingesetzten limitierten Therapieoptionen wohl bezeichnen dürfen).
Chiara Rusconi et al., Ibrutinib improves survival compared with chemotherapy in mantle cell lymphoma with central nervous system relapse, Blood, Vol. 140, Issue 17, October 27 2022
Noch um die Jahrtausendwende war eine Bestrahlung des Gehirns bei ZNS-Lymphomen mit häufig schweren Nebenfolgen (Demenz) die Regel. Zunächst flankiert, später abgelöst wurde diese Praxis durch den - teils auch intrathekalen - Einsatz von Chemotherapeutika, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können (Cytarabin, Methotrexat, Ifophosphamid) mit/ohne autologer Stammzelltransplantantation - in ihrem Einsatz beschränkt auf körperlich fitte Patienten ohne ernsthafte Begleiterkrankungen oder Organschäden. Diese Therapie konnte im Vergleich mit der vorherigen Praxis die Lebensqualität zwar etwas, die Lebenserwartung aber nicht nachhaltig verlängern.
Erst mit der Verfügbarkeit von BTK-Inhibitoren (Ibrutinib) tauchten erste Fallberichte über den Einsatz von Ibrutinib bei sekundären ZNS-Lymphomen auf. MCL-Patienten, die noch nach über einem Jahr diagnostizierter ZNS-Beteiligung in Vollremission waren, stellten vor dem geschilderten Therapiehintergrund eine Sensation dar. "Is the open mouth mightier than the needle?" fragt ein Artikel von Peter Martin in "Blood" (Oktober 2015). Die beginnende Diskussion über diese Frage hatte ihrerseits zur Folge, dass Ibrutinib immer häufiger - und zwar mit guten Ergebnissen - eingesetzt wurde. Und die hier besprochene Studie macht deutlich, dass es sich bei diesen Behandlungserfolgen um mehr als nicht-repräsentative Einzelfälle handelt. Sie vergleicht retrospektiv - anhand zweier Gruppen von je 29 Teilnehmern - die 'klassischen' Behandlungsergebnisse mit hirngängigen Chemotherapeutika mit den neueren Behandlungserfolgen mit Ibrutinib.
Die Daten sind eindeutig. Die mittlere progressionsfreie Zeit (PFS) nach Diagnose einer ZNS-Beteiligung bei MCL-Patienten beträgt 13,1 Monate unter Ibrutinib (gegenüber 4,1 Monaten unter Chemotherapeutika). Das entspricht fast dem PFS im systemischen Rezidiv unter Ibrutinib (13,8 Monate). Könnte man vielleicht sogar sagen, dass es keinen entscheidenden Unterschied (im PFS) macht, ob man eine ZNS-Beteiligung im Rezidiv hat oder nicht?
Noch gibt es zu wenig Daten, um diese kontraintuitiv erscheinende Hypothese zu untermauern - aber ich werde im Folgenden versuchen, sie zumindest nicht vollkommen unplausibel erscheinen zu lassen.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die "Studie des Monats April 2022" zu Ibrutinib bei r/r MCL. Hier zeigt sich, dass bei dem soeben erwähnten durchschnittlichen PFS von 13,8 Monaten das Spektrum der Behandlungsergebnisse weit gefächert ist. Natürlich gibt es darunter auch viele ungünstiger gelagerte Fälle. Wir haben uns in der Besprechung der Studie allerdings vor allem auf die günstigen Vorbedingungen für einen längeren progressionfreien Verlauf bezogen (bei Erstrezidiv + POD >24 = 57.5 Monate; bei Komplettremission = 68.5 Monate).
Träfe meine Hypothese zu, dann müsste es auch Fälle geben, in denen trotz ZNS-Beteiligung im Rezidiv unter Ibrutinib eine progressionsfreie Zeit von mehr als 5 Jahren möglich ist. Vielleicht sollten wir davon ausgehen, dass es sich nicht um allzu viele Fälle handelt. Aber es müsste sie geben, insbesondere dann, wenn die Diagnose einer ZNS-Beteiligung 'unerwartet' ist, d.h. nicht auf bekannte Risikofaktoren zurückführbar ist.
Denn das eigentlich prognostisch Ungünstige einer ZNS-Beteiligung dürfte (und nur so ließe sich wohl meine Hypothese argumentativ stützen; jedenfalls angesichts der Möglichkeit einer Behandlung mit Ibrutinib) in den meisten Fällen nicht in der ZNS-Beteiligung selbst, sondern an den sie begünstigenden Begleitumständen liegen (blastischer Verlauf, KI-67 >50, tp-53 Mutation) - alles gewissermaßen 'alte Bekannte' für eine insgesamt eher ungünstige Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs.
Es bleibt somit dieselbe Frage, die sich zur Weiterbehandlung nach einem Rezidiv (oder auch einer Unverträglichkeit) unter Ibrutinib stellt: ob mit oder ohne ZNS-Beteiligung.
Sie ist zumindest perspektivisch zu beantworten: sowohl die Weiterentwicklung von BTK-Inhibitoren (Zanubrutinib, Pirtobrutinib etc.) als auch der künftige verbesserte Einsatz von CAR-T-Zell-Therapien lassen hoffen, dass auch nach einem Rezidiv unter Ibrutinib das 'Ende der Fahnenstange' noch keineswegs erreicht ist.
Studie(n) des Monats: Juli 2023
Wieder einmal geht es um einen BTK-Inhibitor. Wir hatten (in der "Studie des Monats: April 2023") darüber berichtet, dass die Zulassung für Ibrutinib für MCL vom Hersteller (AbbVie) überraschend zurückgegeben wurde. Zwar gilt dies nur für den Vertrieb in den Vereinigten Staaten, aber das Wetterleuchten dieser Entscheidung ist durchaus auch in Europa wahrgenommen worden. Auch wenn hier weiterhin noch Ibrutinib als Standard in der Zweitlinientherapie angesehen wird - zeichnet sich doch ein Umdenken ab. Das muss deshalb erstaunen, weil ja gerade erst, als Konsequenz aus der TRIANGLE-Studie, vorgeschlagen wurde, Ibrutinib in der Erstlinie einzusetzen. Aber die Situation ist eine andere in Europa als in den USA: es gibt hier noch keine Marktzulassung von Acalabrutinib und Zanubrutinib für MCL und damit auch keine breite Diskussion darüber, ob nicht ein anderer BTK-Inhibitor als Ibrutinib in der MCL-Therapie besser geeignet wäre.
Ich hatte - in der "Studie des Monats: April 2023" - auf den schwindenden Marktanteil von Ibrutinib in der MCL-Therapie in den USA - vor der Rückgabe der Zulassung - gegenüber den beiden anderen 2nd generation BTK-Inhibitoren Acalabrutinib und Zanubrutinib hingewiesen. An einem schlechten Marketing liegt das nicht unbedingt. Weil noch keine "head-to-head-Studie" (Ibrutinib vs. Zanubrutinib) durchgeführt wurde, liegt (noch) kein eindeutiger Beweis dafür vor, dass die beiden 2nd generation BTK-Inhibitoren wesentlich bessere Ergebnisse im progressionsfreien (PFS) und Durchschnittsüberleben (OS) erzielen. Es gibt aber dennoch einen einleuchtenden Grund, der insbesondere Zanubrutinib gegenüber Ibrutinib favorisiert: es ist das bessere Nebenwirkungsprofil. Denn wenn man sich vergegenwärtigt, dass BTK-Inhibitoren gewöhnlich als Dauertherapie gegeben werden, ist die Beurteilung von Nebenwirkungen keineswegs ein Nebenthema. Jedenfalls nicht für die Patienten.
Zulassungsrelevante Studien interessieren sich vor allem für Nebenwirkungen einer Therapie, die potentiell lebensgefährlich sind. Nebenwirkungen, die die Lebensqualität - teilweise erheblich - einschränken, stehen da weniger im Fokus. Unter solchen Nebenwirkungen leidet nun aber auch die Hauptwirkung einer Therapie. In diesem Zusammenhang geht es nämlich im hohen Maße um "compliance", zu übersetzen ungefähr mit "Handeln (des Patienten) in Übereinstimmung mit den Vorgaben". Eine schlechte "compliance" bedeutet, dass sich Patienten nicht an die Dosierungs- und Einnahmevorschriften eines Medikaments halten, weil sie, mit anderen Worten, "nicht dahinterstehen" - bis hin zum Behandlungsabbruch.
Ibrutinib ist ein Medikament mit teilweise erheblichen Nebenwirkungen, jedenfalls bei einem Großteil der Patienten. Für Zanubrutinib trifft dies in deutlich geringerem Maße zu. Weil Nebenwirkungen eines Medikaments oft (wenn auch nicht immer) unabhängig von behandelten Erkrankungen auftreten, kann man sich zunächst an einem direkten Vergleich zwischen Ibrutinib und Zanubrutinib bei einer anderen Lymphomart, der chronisch lymphatischen Leukämie (CLL), orientieren. Auf Basis der Daten der "ALPINE-Studie" wurde Zanubrutinib vor kurzem vom "Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen" (IQWIG) ein "erheblicher Zusatznutzen" (bei jüngeren Patienten) und zumindest ein "geringer Zusatznutzen" (bei älteren Patienten) gegenüber Ibrutinib bescheinigt. Dabei wirkte sich die bessere Verträglichkeit mittelbar auch auf das Durchschnittsüberleben aus.
Wie sieht es nun bei MCL aus? Hier liegt zwar kein direkter Vergleich zwischen Ibrutinib und Zanubrutinib vor, aber immerhin eine bereits ein Jahr alte Veröffentlichung: das Follow-up derjenigen Studie, die zur FDA-Zulassung von Zanubrutinib führte.
Es handelt sich hier um eine Studie, die mit 86 Teilnehmern an 13 verschiedenen Orten in China durchgeführt wurde. Und es erstaunt nicht, dass die zielgerichtetere Wirkung von Zanubrutinib sich auch in einem erheblich verbesserten Nebenwirkungsprofil niederschlägt. Und ob es nun die bessere Verträglichkeit und die daraus resultierende "compliance" oder eine gesteigerte pharmakologische Wirksamkeit ist: mit Zanubrutinib werden tiefere und andauerndere Remissionen als mit Ibrutinib erreicht. Der mediane progressionsfreie Verlauf (PFS) ist mit 33 Monaten gegenüber Ibrutinib (12.5 Monate) erheblich verlängert. Und obwohl der Altersschnitt der Studie deutlich geringer ist als in den akkumulierten Vergleichsstudien zu Ibrutinib (61 vs. 68 Jahre), schnitten die älteren Teilnehmer (über 65 Jahre) nicht schlechter ab als die jüngeren.
Ergebnisse, die fast zu gut erscheinen, um wahr zu sein. Überprüfen wir sie - soweit das geht - anhand einer weiteren, der ersten verfügbaren Studie zu Zanubrutinib bei MCL (2021), die allerdings nur eine geringe Anzahl an (32) Teilnehmern hatte.
Constantine S. Tam et al., Zanubrutinib for the treatment of relapsed or refractory mantle cell lymphoma, in: Blood, Volume 6, Issue 21, June 21 2021
Hier wurde der mediane progressionsfreie Verlauf (PFS) mit 21.1 Monate angegeben - zwar eine deutliche Abweichung gegenüber der Studie von Song et al., aber immer noch erheblich besser als in den gepoolten Studien mit Ibrutinib (bei vergleichbarem Altersschnitt). Auch das Nebenwirkungsprofil erscheint zwar weniger günstig als in der chinesischen Studie - aber ebenfalls immer noch deutlich besser als im Vergleich mit Ibrutinib.
Eine weitere auffallende Diskrepanz zwischen den beiden Zanubrutinib-Studien klärt sich bei näherem Hinsehen. Neben der übereinstimmend hohen Ansprechrate (ORR: 84%) erstaunt in der Studie von Song et al. sehr hohe Anteil der vollständigen Remissionen (CR: 78%). In der Studie von Tam et. al. wurde eine erheblich geringere Zahl angegeben (CR: 25%). Tatsächlich wurden unterschiedliche Kriterien für die Einstufung einer Remission als CR verwendet: der hauptsächliche Unterschied liegt darin, dass bei Tam et al. (wie auch bei den Ibrutinib-Studien mit einer vergleichbaren Zahl an CRs) die Einstufung vor allem CT-gestützt vorgenommen wurde, in der Studie von Yong et al. wurden hingegen durchgängig PET-CTs zur Beurteilung herangezogen. Aber auch wenn hier kein alles entscheidender Unterschied zu Ibrutinib existieren sollte, wäre es doch zumindest plausibel, in Korrelation zum längeren PFS bei Zanubrutinib auch eine zumindest leicht höhere CR-Rate zuzugestehen.
Und trotz aller gesunden Skepsis (u.a. auch, weil noch zu wenig aussagekräftige Daten zum Langzeitüberleben mit Zanubrutinib vorliegen): vom Abwarten auf eine direkte Vergleichsstudie zwischen Zanubrutinib und Ibrutinib sollte man seine Therapieentscheidung nicht abhängig machen. Eine Alternative könnte allerdings Pirtobrutinib sein (vgl. "Studie des Monats: Mai 2023") - in jedem Fall als Ersatztherapie beim Auftreten von Mutationsresistenzen unter Zanubrutinib. Mehr lässt sich z.Zt. noch nicht begründet sagen.
Schließen wir daher mit einem praktischen Hinweis: Zanubrutinib kann in Deutschland nur im Off-label-use verschrieben werden. Der behandelnde Arzt muss deshalb einen Antrag an die Krankenkasse stellen. Da die Kosten für eine Behandlung mit Zanubrutinib allerdings (etwas) günstiger als die mit Ibrutinib sind, sollten die Chancen auf eine Befürwortung der beantragten Therapie aber gut stehen.
Und noch ein weiteres: Da es in präklinischen Studien deutliche Hinweise darauf gab, dass eine Kombination von Zanubrutinib mit Rituximab effektiver sein könnte als die Kombination Ibrutinib und Rituximab, wird nun diese Kombination (ZR + im Anschluss Z-Erhaltungsdosis vs. BR) in einer großangelegten Phase 3-Studie, allerdings nur für noch unbehandelte Patienten, untersucht. Man darf auf die Ergebnisse gespannt sein.
Studie des Monats: Juni 2023
Die Kombination von Rituximab/Bendamustin (RB) ist ein bewährtes chemo-immuntherapeutisches Konzept, das in Deutschland aufgrund seiner relativ guten Verträglichkeit insbesondere bei älteren und gebrechlichen Patienten (mit gesundheitlichen Einschränkungen) verwendet wird. Vor diesem Hintergrund liegt es jedoch nicht unbedingt nahe, zusätzliche Medikamente in das Schema zu integrieren (weil dadurch die Toxizität und damit die Nebenwirkungen der Medikation zunehmen). Außerhalb Deutschlands wird RB hingegen sehr viel eher auch als mögliche Grundlage für noch wirksamere Medikamentenkombinationen angesehen. Wir haben etwa in der "Studie des Monats April" eine Kombination von RB mit Ibrutinib besprochen (SHINE-Studie), eine andere Studie (LENA-BERIT) prüft eine Kombination mit Lenalidomid. Und sowohl Bortezomib als auch Venetoclax sind relativ erfolgreich zu RB addiert worden. Hingegen wurde eine Studie, die sogar einen 4-Komponenten-Mix (BR, Ibrutinib, Venetoclax) prüfte, aufgrund mehrerer Todesfälle vorzeitig geschlossen. Unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie war die immunhemmende Wirkung der Kombination zu hoch.
(Hämatologische) Toxizität ist tatsächlich ein nicht zu unterschätzendes Problem auch bei der in Folge von uns besprochenen, vielversprechenden Kombination RB + Cytarabin.
Ursprünglich in Hochdosis zur Behandlung von Leukämien verwendet, wurde Cytarabin (ebenfalls in Hochdosis) in Standard-Immunchemotherapien zur Behandlung von Lymphomen integriert (etwa: R-Hyper-CVAD, "Nordisches Protokoll", R-CHOP/R-DHAP). Sehr wirksam, ziemlich toxisch - und nur für gesundheitlich fitte Patienten bis zu einem Alter von ungefähr 65-70 Jahren geeignet. Visco et al. entwickelten an mehreren klinischen Zentren in Oberitalien daher ein für ältere Patienten modifiziertes Regime (R-BAC-800). Weil aber auch so die Toxizität für ein Patientenkollektiv mit dem Durchschnittsalter 70+ immer noch bedenklich zu nennen war, modifierte die Studienleitung die Cytarabin-Dosis ein weiteres Mal. 2014 wurde dann "R-BAC-500" zur Grundlage einer Studie mit 57 Patienten gemacht, deren (eindrucksvolle) Langzeitgebnisse jetzt vorliegen.
M. Ch. Tisi et. al.: "Long term follow-up of Rituximab plus Bendamustine and Cytarabine (R-BAC) in elderly patients with newly diagnosed MCL" in: blood advances (may 12, 2023) pdf
Tatsächlich lebten nach sieben Jahren Beobachtungszeit noch fast 2/3 der ursprünglichen Studienteilnehmer (OS = 63%), und - noch erstaunlicher - die allermeisten von ihnen in Remission (PFS = 55%). Dies in einem Patientenkollektiv mit sehr viel ungünstigeren Vorbedingungen (Durchschnittsalter: 71 Jahre, 44% MIPI-Hochrisikopatienten, 25% blastoide/pleomorphe Histologie) als in einschlägigen Vergleichsstudien mit ähnlichen Ergebnissen. (Da insbesondere eine blastoide/pleomorphe Histologie auch unter R-BAC-500 ein Risiko-Indikator blieb, wird in einer zur Zeit laufenden Studie die Kombination R-BAC-500 + Venetoclax in Hochrisikogruppen geprüft.) Es stellt sich daher die Frage, ob sich angesichts dieser eindrucksvollen Ergebnisse R-BAC-500 zumindest bei älteren Patienten als Standardmedikation neben oder gar an Stelle von RB etablieren könnte?
Ein genauerer Blick in die Studie gibt hierfür zumindest die Bedingungen vor: Denn immer noch war die Cytarabin-Dosis für einen großen Teil der Studienteilnehmer zu hoch. Tatsächlich absolvierten nur 67% der Patienten die volle Anzahl von sechs Zyklen und nur bei 25% musste keine Reduktion der Cytarabin-Dosis vorgenommen werden. Überraschenderweise jedoch schnitten Patienten mit nur vier Zyklen R-BAC-500 und/oder einer Reduktion der Cytarabin-Dosis (gewöhnlicherweise um ein Drittel) keineswegs schlechter ab als die Vergleichsgruppe. Vielleicht wäre daher - auch im Hinblick auf das im Vergleich zu anderen Therapieoptionen erhöhte Auftreten von Zweittumoren - eine weitere Cytarabin-Dosisabsenkung von vornherein (und nicht nur individuell) sinnvoll. Durch die verminderte Toxizität könnten weitaus mehr (ältere, gebrechliche) Patienten eine dann verträglichere Medikation im R-BAC-Schema in Betracht ziehen.
Tatsächlich ist die Standarddosierung von Krebsmedikamenten keineswegs in Stein gemeißelt. Ihre Festlegung erfolgt in Eskalationsstudien (in aufsteigender Dosis) und richtet sich - nach dem Grundsatz "viel hilft viel" - an der maximal tolerablen Dosis aus (in der ursprünglichen Phase-1-Studie von Visco et. al. waren das noch 3 x 800 mg/m² Cytarabin pro Zyklus). Jede (spätere) Absenkung dieser Standarddosis, etwa hin zu den aktuellen 3 x 500 mg/m² Cytarabin pro Zyklus, geschieht allein nach dem Grundsatz "trial and error". Und genau deshalb spräche - bis zum Beweis des Gegenteils (einer signifikanten Wirkungsminderung) - auch erst einmal nichts Grundsätzliches gegen eine weitere Verminderung der Standarddosis zugunsten einer Erweiterung des Patientenkollektivs, etwa auf nur 2 x 500 mg/m² Cytarabin pro Zyklus, in nur vier statt sechs Zyklen (bei vollständiger Remission). Eine individuelle Dosisreduzierung wäre im Bedarfsfall zusätzlich möglich. Und tatsächlich weist die aktuelle Therapiepraxis in diese Richtung.
Im Ergebnis also "R-BAC-250" oder gar "R-BAC-200"? Es käme auf den Versuch an.
Vielleicht ist manchmal weniger mehr.
Studie des Monats: Mai 2023
Am 26. April hat der medizinische Gutachterdienst der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) die Erteilung einer bedingten Zulassung für das Medikament Jaypirca (Pirtobrutinib), einen reversiblen, nicht-kovalenten BTK-Inhibitor, befürwortet. Bis zur endgültigen, formalen Zulassung durch die EMA wird es wohl Juli werden - aber immerhin... (Ich verweise auf meinen im Nachhinein "prophetisch" zu nennenden Abschlusssatz der "Studie des Monats April".) Die Zulassungsempfehlung für Pirtobrutinib stützt sich auf die bereits 2021 auf dem Kongress der American Society of Hematology (ASH) vorgestellte Phase I/II BRUIN-Studie, zu der mittlerweile ein etwas längeres Follow-up vorliegt, das wir uns nun ansehen wollen.
Wang ML, Shah NN, Jurczak W, et al. Efficacy of Pirtobrutinib in Covalent BTK-Inhibitor PreTreated Relapsed / Refractory Mantle Cell Lymphoma: Additional Patients and Extended Follow-up from the Phase 1/2 BRUIN Study. Blood. 2022;140(Supplement 1):9368-9372.
Die gewöhnlicherweise aussagekräftigsten Studiendaten, nämlich die Ansprechrate (ORR: 58%) - davon vollständig (CR: 20%) - sowie der "progressionsfreie Verlauf" (PFS, 7,4 Monate) sind auf den ersten Blick gut, vielleicht nicht sensationell zu nennen - aber es kommt hier auf eine Einordnung dieser Daten vor allem in das, sagen wir, "medikamentöse Umfeld" an. Zunächst zum Studiendesign: die BRUIN-Studie wurde durchgeführt mit 90 teilweise stark vorbehandelten MCL- Patienten mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren, die allesamt einen (kovalenten irreversiblen) BTK-Inhibitor (zumeist Ibrutinib) erhalten hatten; 82% davon waren rezidivär/refraktär, die anderen 18% hatten die Therapie mit einem BTK-Inhibitor aufgrund von Unverträglichkeit abgebrochen. Nehmen wir zunächst ausschließlich die Rezidiv-/Refraktärpatienten in den Blick: in dieser Gruppe lag die Ansprechrate auf Pirtobrutonib immerhin noch bei 50%. Das ist, natürlich, weniger hoch als in der vorherigen Behandlung mit einem kovalenten BTK-Inhibitor, aber die Studie war ja nicht als Vergleich konzipiert, sondern sollte untersuchen, ob mit Pirtobrutinib eine (deutliche) Verlängerung der Therapie mit BTK-Inhibitoren möglich ist. Und das scheint so zu sein, wenn man die (zusätzliche) durchschnittliche Ansprechdauer (DOR) von Pirtobrutinib (14,8 Monate) in dieser Patientengruppe betrachtet. Und wenn man das medikamentöse "Setting" betrachtet, in dem BTK-Inhibitoren eingesetzt werden, ist die Ansprechdauer bei Pirtobrutinib ebenso zu berücksichtigen wie die progressionsfreie Zeit, weil es oft darum geht, wie viel (Überbrückungs-)Zeit ab dem Therapieversagen kovalenter BTK-Inhibitoren für die Einleitung der Folgetherapie (zunehmend: CAR-T-Zelltherapie) bleibt.
Ob Pirtobrutinib oder ein anderer nicht-kovalenter, reversibler BTK-Inhibitor Ibrutinib & Co. ablösen wird, also von vornherein in der Zweitlinie, später vielleicht sogar in der Ersttherapie gegeben wird, kann man, solange die Ergebnisse einer entsprechenden, z. Zt. durchgeführten Phase III-Studie zum direkten Vergleich von Pirtobrutinib mit nicht-reversiblen BTK-Inhibitoren in R/R MCL noch nicht vorliegen, nur mutmaßen. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch nicht gering, dass es auf Dauer genau so kommen könnte, da zusätzlich - und das ist ein weiteres wichtiges Ergebnis der BRUIN-Studie - Pirtobrutinib deutlich besser verträglich zu sein scheint als etwa Ibrutinib: nur 3% der Pirtobrutinib-Patienten brachen ihre Teilnahme an der Studie aufgrund von Unverträglichkeiten ab. Welchen Platz nun auch immer Pirtobrutinib in künftigen Behandlungsschemata einnehmen wird, für MCL-Patienten ist das in jedem Fall eine gute Nachricht.
Studie(n) des Monats: April 2023
Zwei gepoolte Analysen zu dem erst seit knapp 10 Jahren zugelassenen (später dazu mehr!) BTK-Inhibitor Ibrutinib, der sich mittlerweile als Standard in der Zweitlinienbehandlung etabliert hat. Zwar zeichnen unterschiedliche Autoren (Simon Rule und Martin Dreyling) verantwortlich, aber der letztere war schon am Zustandekommen des ersten Artikels beteiligt und dem ersteren wird im zweiten Artikel für seine (frühere) Mitarbeit gedankt. Wirklich unterschiedlich ist eigentlich nur der Beobachtungszeitraum der den Analysen zugrundeliegenden Studien: er beträgt das eine Mal 7.5, das andere Mal annähernd 10 Jahre. Und erfreulicherweise bestätigen die späteren Daten den bereits vorher aufgezeigten Trend: Ein nicht unerheblicher Anteil von Patienten erreicht mit Ibrutinib eine langandauernde Remission. Tatsächlich zeigen die gepoolten Analysen, dass es (in absteigender Reihenfolge) drei Patientengruppen gibt, die in besonderer Weise, d.h. für längere Zeit, von Ibrutinib profitieren: a) Patienten, die eine vollständige Remission ("CR") mit Ibrutinib erreichen; b) Patienten, die ab Beginn der Erstlinienmedikation länger als zwei Jahre kein Rezidiv hatten ("POD >24"); c) Patienten in der Zweitlinienbehandlung ("1 prior line of treatment", d.h. nach einem ersten Rezidiv oder dem Nicht-Ansprechen auf die Medikation in erster Linie). Wer als Patient den letztgenannten Gruppen - sowohl b) als auch c) - angehört oder sogar eine Vollremission unter Ibrutinib erreicht , wird mit Interesse sehen, dass für diese Fallgruppen die mittlere progressionsfreie Zeit mit Ibrutinib bei 57,5 bzw. 68,5 Monaten liegt und dass, wie Simon Rule es ausdrücklich anmerkt, ab einer progressionsfreien Zeit von 6 Jahren ein Plateau erreicht zu sein scheint, weitere Rezidive also (bisher) nicht mehr vorkommen. Die späteren Daten der 10-jährigen Nachverfolgung bestätigen das, wenngleich Martin Dreyling, etwas vorsichtiger, diesen Umstand nicht gesondert hervorhebt.
Was aber beide Metastudien betonen, ist ein Ergebnis, das eine alte Grundregel der (chemotherapeutischen) Lymphombehandlung in Frage stellt. Sie lautet: die erste Behandlung ist bei weitem die effektivste, im weiteren lässt der Behandlungserfolg deutlich nach. In diesem Sinne zeigt etwa eine Untersuchung zu MCL-Therapien aus dem Jahre 2016 (die sich auf einen Zeitraum bezieht, in dem Ibrutinib noch nicht flächendeckend eingesetzt wurde), dass die durchschnittliche progressionsfreie Zeit in der Zweit- im Vergleich zur Erstlinientherapie um 70% (14.0 Monate gegenüber 47.4 Monate) und in der Drittlinie (6.5 Monate) sogar um 86% abnahm.
Tatsächlich hat sich - und die hier besprochenen gepoolten Analysen zeigen es - Ibrutinib auch in dieser Hinsicht als ein "game changer" herausgestellt. Wurde es in der Zweitlinie verwendet, war die durchschnittliche Zeit bis zum Rezidiv in etwa genauso lang wie in der vorhergehenden Therapie. In der Untergruppe der Patienten mit Spätrezidiven ("POD >24") in der Erstbehandlung (nach durchschnittlich 42.2 Monaten) war die durchschnittliche Zeit bis zum Rezidiv unter Ibrutinib (nach durchschnittlich 57.5 Monaten) sogar deutlich verlängert.
Angesichts dieser Ergebnisse umso überraschender hat vor zwei Wochen die Food and Drug Administration (FDA), die für die Zulassung von Medikamenten zuständige US-amerikanische Behörde, Ibrutinib (nach einer beschleunigten Zulassung im Jahre 2013) die nunmehr notwendige volle Zulassung verweigert. In einer eigenwilligen Interpretation der Ergebnisse der SHINE-Studie (zum Nachlesen: Studie des Monats Januar 2023),
betont die FDA, dass sie ihre Bedenken gegenüber den nicht ganz unerheblichen Nebenwirkungen von Ibrutinib nicht ausgeräumt sieht. Ob es sich bei dieser Phase III-Studie wirklich um "mehr SHINE als Sein" handelt oder nicht - jedenfalls hat AbbVie, der Medikamentenhersteller, als Konsequenz angekündigt, Ibrutinib als Medikament für die Behandlung von r/r MCL vom amerikanischen (wichtig: nicht vom europäischen) Markt zu nehmen.
Wie muss man das als MCL-Patient lesen? Vielleicht so: mit Acalabrutinib, Zanubrutinib und Pirtobrutinib stehen bereits drei weitere BTK-Inhibitoren (jeweils mit beschleunigter Zulassung durch die FDA) auf dem US-Markt bereit, an die AbbVie kontinuierlich Marktanteile verliert. Angesichts dieser wachsenden Konkurrenz wird AbbVie keine weitere aufwendige Phase III-Studie zur Rettung der Zulassung für Ibrutinib bei r/r MCL initiieren. Denn die soeben genannten drei Medikamente sind Ibrutinib in Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil mindestens ebenbürtig, wahrscheinlich sogar überlegen.
In Europa ist die Situation eine andere. Hier steht für die Behandlung von r/r MCL im Regelfall lediglich Ibrutinib, allerdings auch im Weiteren, zur Verfügung. Weder Acalabrutinib, noch Zanubrutinib, noch Pirtobrutinib sind für die Indikation MCL bisher durch die European Medicines Agency (EMA) zugelassen. Es wäre aber langsam an der Zeit.
Studie des Monats: März 2023
Nein, kein Irrtum: Obwohl sich diese Studie auf eine andere Lymphomart bezieht, ist sie auch für MCL-Patienten von Interesse. Das liegt daran, dass die hier untersuchte Chemoimmuntherapie, R-CHOP, gleichermaßen für die Behandlung von DLBCL und MCL, verwendet wird und hier lediglich die simple Frage beantwortet werden soll, ob die Medikation besser morgens oder nachmittags stattfinden sollte. Die kürzlich durchgeführte koreanische Studie im Überschneidungsbereich zweier medizinischer Randdisziplinen, der Chrono- und der Gendermedizin, zeigt, dass Männer und Frauen hier nicht über einen Kamm zu scheren sind. So weiß man seit Längerem, dass die Wirkung und Verträglichkeit von Chemotherapien (in je nach WIrkstoffgruppe bzw. -prinzip unterschiedlicher Weise) von der Interaktion mit dem circadianen Rhythmus auf Zellebene abhängt und dass es hierbei zusätzlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, weil einerseits Medikamente von Männern und Frauen in unterschiedlicher Geschwindigkeit verstoffwechselt werden und andererseits die Oszillationen circadianer Rhythmen bei Frauen größere Amplituden aufweisen. (Zusätzlich gibt es - bei beiden Geschlechtern - individuell voneinander abweichende circadiane Biologien, etwa von "Eulen" und "Lerchen" in Bezug auf den chronobiologisch leitenden Rhythmus, den Wach- und Schlafrhythmus.) Ein weites Feld also für Studien der Chrono- und Gendermedizin, die allerdings tendenziell unterfinanziert sind, da sie sich nur am Rande des Interesses der Pharmaindustrie an der Entwicklung und Erprobung (und Vermarktung) neuer Medikamente bewegen.
Gleichwohl lassen die Ergebnisse der Studie aufhorchen: Während bei Männern der Unterschied zwischen einer R-CHOP-Medikation morgens (8.30 Uhr) und nachmittags (14.30 Uhr) statistisch nicht ins Gewicht fiel , war er bei Frauen signifikant. Nach einer Beobachtungszeit von 60 Monaten war in der "Morgengruppe" die Sterblichkeit drastisch, nämlich sieben Mal (19,6% vs. 2,8%) und das Risiko eines Rezidivs immerhin noch 2,5 Mal höher (33,3% vs. 13,9%) als bei der "Nachmittagsgruppe". Und auch nach einer statistischen "Glättung" durch eine multivariable Analyse blieb ein eindeutige Tendenz bestehen.
Sicherlich lässt sich einwenden, dass die verhältnismäßig geringe Teilnehmerinnenzahl an der Studie (51 Frauen in der Morgengruppe standen 36 Frauen in der Nachmittagsgruppe gegenüber) erklärt, dass es zu so erheblichen Unterschieden kommen konnte. Zudem machen die Unterschiede in Verlauf und Prognose bei DLBCL und MCL eine einfache Übertragung der Ergebnisse unmöglich. Dennoch haben die Ergebnisse der Studie einen generellen Wert für (weibliche) Lymphompatienten - jedenfalls legt die Erklärung, die die Autoren der Studie für den signifikanten Unterschied in den Ergebnissen geben, dies nahe. Denn ihre Erklärung zielt in erster Linie auf die bessere Verträglichkeit von R-CHOP bei einer Medikation am Nachmittag. Wohlgemerkt: für Frauen. Diese bessere Verträglichkeit wiederum führte nämlich dazu, dass in der "Morgengruppe", bedingt durch eine erheblich höhere Anzahl von Infektionen und neutropeniebedingtem Fieber, bei einer großen Anzahl von Patientinnen Dosisreduktionen der Medikation vorgenommen werden mussten und dies (und keine okkulte Ursachen), so mutmaßen die Autoren der Studie vermutlich zu Recht, dürfte dann auch der wesentliche Grund für die deutlich besseren Therapieergebnisse in der Vergleichsgruppe gewesen sein, in der kaum Dosisreduktionen stattfanden.
Lässt sich bereits jetzt schon praktischer Nutzen aus dieser Studie ziehen, ohne erst weitere Untersuchungen in der Sache abzuwarten? Zumindest wohl für Frauen, die sich einer Therapie mit R-CHOP unterziehen und denen ihr konkreter Behandlungszeitpunkt im Tagesverlauf egal ist. Da es keine bekannten Risikofaktoren einer Medikation am Nachmittag gibt (häufig wird dieser Zeitpunkt aus nicht-medizinischen, etwa aus beruflichen Gründen gewählt), hat man bzw. frau das Äquivalent zu dem, was in der Finanzmarkttheorie scherzhaft "free lunch" genannt wird: ein - statistisch gesehen - höherer Ertrag ohne ein damit einhergehendes gesteigertes Risiko.
Studie des Monats: Februar 2023
Bendamustin-Rituximab (BR) ist eine Standardinduktionstherapie, die insbesondere, aber nicht nur, bei älteren Patienten zur Anwendung kommt. Lange Zeit war aufgrund widersprüchlicher Studienergebnisse ungeklärt, ob nach BR-Induktion eine anschließende Rituximab-Erhaltungstherapie gegeben werden sollte - aber es scheint so, als ob sich das Pendel eher in Richtung der Befürworter neigen würde. Doch wenn man nun schon einmal dabei ist, kann man natürlich auch auf die Idee kommen, ob nicht eine intensivierte Erhaltungstherapie unter Hinzunahme von Lenalidomid noch bessere Resultate zeitigt. Unwahrscheinlich ist das zumindest nicht: Unter dem Titel R² gilt die Kombination Rituximab + Lenalidomid als eine der wenigen etablierten, wirksamen chemotherapiefreien Behandlungsmöglichkeiten. Und was für die Induktionstherapie gilt, sollte auch für die Erhaltungstherapie gelten. Doch Vorsicht: nicht alles, was plausibel ist, tritt in Wirklichkeit auch ein. Weil Studien auf Basis plausibler Annahmen zu deren Überprüfung in der Realität konstruiert werden, sind ihre Ergebnisse manchmal auch enttäuschend. So auch hier: Die Hinzufügung von Lenalidomid zu Rituximab in der Erhaltungstherapie nach R/B-Induktion in der Erstlinie führt zu keiner signifikanten Verbesserung des progressionsfreien Überlebens (Hazard Ratio LR vs. R: 0.96, d.h. eine nur um 4% höhere Wahrscheinlichkeit progressionsfreien Überlebens mit LR bis zu dem Zeitpunkt des progressionsfreien Überlebens mit R), dies aber um den Preis erhöhter Toxizität. Aber muss man über dieses Ergebnis wirklich enttäuscht sein? "Ent-täuschung" heißt doch letztlich nichts anderes, als dass man sich von einer Täuschung (einer plausiblen, aber nicht zutreffenden Annahme) befreit hat. Und auch dafür - manchmal vergisst man es - sind Studien da. Sie widerlegen Hypothesen, die man - jedenfalls in unveränderter Form - nun nicht weiter verfolgen sollte. Zugunsten neuer - zu überprüfender - Hypothesen.
Studie des Monats: Januar 2023
Als Ergebnisse einer großangelegten Studie werden in dieser Kurzzusammenfassung zwar nur vorläufige Daten aus der Mitte des Jahres 2022 vorgestellt, aktuell genug aber, um mit ihnen eine Grundsatzfrage in der Onkologie anzusprechen, die sich für die MCL-Therapie in besonderer Form stellt. Es ist das Problem der Sequenzierung. Hierbei geht es um die Frage, ob eine Therapie aus der (im Idealfall einmaligen) Kombination möglichst vieler verschiedener Wirkstoffe oder aus deren sukzessiver Abfolge in aufeinanderfolgenden Therapieschritten (und dann, weitere Frage, in welcher Reihenfolge?) bestehen sollte. Da die simultane Gabe unterschiedlicher Wirkstoffe oft einen "synergetischen", d.h. einen ein- oder gegenseitig wirkstoffverstärkenden Effekt hat, galt in der Therapie von Leukämien und Lymphomen das Prinzip "Hit 'em once and hit 'em hard". Und tatsächlich lassen sich bestimmte Leukämien und Lymphome mit oft hochdosierten Kombinations-Chemotherapien ein für allemal heilen. Das Mantelzelllymphom gehört wahrscheinlich nicht dazu. Wenn hier ein Rezidiv nach einer Chemotherapie - zumindest als Regelfall - angenommen werden muss, lässt sich für den Grundsatz des "Hit 'em once and hit 'em hard" eine andere Begründung finden: Sie besteht darin, dass eine chemotherapeutische Behandlung zu mutationsbedingten Resistenzen gegen Chemotherapeutika führt, so dass Behandlungsversuche nach einem Rezidiv deutlich weniger effektiv als zuvor sind. "Simultan" ist hier also, auch wegen der bereits erwähnten ein- oder gegenseitigen Verstärkungswirkung, immer noch besser als "sukzessiv".
Bezieht man nun aber andere, nicht-chemotherapeutische Wirkstoffe (hier: den BTK-Inhibitor Ibrutinib) in Therapieüberlegungen mit ein, liegen die Dinge weniger eindeutig. Und in dieser Perspektive relativiert sich auch das zunächst erfreulich klingende Zwischenergebnis der SHINE-Studie. Ibrutinib, zusätzlich zur Kombination von Bendamustin und Rituximab + R-Erhaltung (der Standardtherapie für ältere Patienten) gegeben, führte dazu, dass sich der mediane progressionsfreie Krankheitsverlauf (PFS) der Studienteilnehmer (im durchschnittlichen Alter von 71 Jahren) von 52,9 Monaten auf 80,6 Monate erhöhte. Immerhin ein Anstieg um über die Hälfte. Aber: das mediane Gesamtüberleben der Studienteilnehmer blieb in beiden Therapiearmen ohne signifikanten Unterschied. Zumindest hier gilt also nicht automatisch, dass "simultan" "sukzessiv" schlägt. Auch für weitere in der Studie untersuchte Parameter wurden uneindeutige Ergebnisse ausgewiesen. Die Toxizität von BR wurde durch die Hinzufügung von Ibrutinib nicht wesentlich erhöht. Die Lebensqualität war in beiden Therapiearmen gleich hoch.
Immerhin lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Addition von Ibrutinib zu BR eine weitere gangbare Therapieoption in der Erstlinienbehandlung eröffnet. Die Frage "simultan" oder "sukzessiv" wird sich aber für die Behandlung des Mantelzelllymphoms wohl erst unter Einbezug zusätzlicher Substanzen bzw. neuer Therapieformen (etwa: BCL-2-Inhibitoren, ROR1-Inhibitoren, CAR-T-Zelltherapien, BiTEs) klären lassen.
Studie(n) des Monats: Dezember 2022
Jia Ruan, John P. Leonard et al.: Acalabrutinib-Lenalidomide-Rituximab (ALR) with Real-Time Monitoring of MRD in Patients with Treatment-Naive Mantle Cell Lymphoma (Abstract).
Diese Phase-2-Studie, deren Ergebnisse am 10. Dezember auf dem ASH 2022 präsentiert werden, stellt einen neueren Versuch dar, eine chemotherapiefreie Erstlinienbehandlung zu etablieren. Hierzu wird ein bereits bewährter Therapieansatz (Rituximab+Lenalidomid) zusätzlich mit einem BTK-Inhibitor kombiniert. Und zumindest auf den ersten Blick lassen sich die Ergebnisse am Ende eines zweieinhalbjährigen Untersuchungszeitraums sehen: bei akzeptabler Toxizität sind 100% progressionsfreies und 100% Gesamt-Überleben nicht zu überbieten. Gibt es hier einen Haken?
Zwar ist die Studie mit 24 Teilnehmern nicht sehr umfangreich (wie alle Phase-2-Studien) - aber immerhin sind die Teilnehmer keineswegs, weder nach Durchschnittsalter noch Risikoprofil, "handverlesen". Was die Studie (noch) nicht klären kann, ist die Frage, wie langanhaltend die erzielten Remissionen sind bzw. sein werden. Und, ebenso wichtig, ob nach einem Rezidiv therapeutische Optionen bestehen, mit denen das durchschnittliche Gesamtüberleben der "Standard-of-care-Patienten" (Induktion mit Cytarabin enthaltender Chemotherapie, danach autologe Stammzelltransplantation, Rituximab als Erhaltungstherapie) übertroffen wird.
Einen etwas längeren Untersuchungszeitraum und eine etwas höhere Teilnehmerzahl hat die Studie von Eva Giné u.a. "Ibrutinib in Combination with Rituximab for Indolent Clinical Forms of Mantle Cell Lymphoma" (4/2022).
Auch hier werden ähnlich gute Ergebnisse erzielt, allerdings, wie der Titel der Studie schon anzeigt, bei einer ausgewählten Patientengruppe mit indolentem Verlauf. In der Untergruppe der (indolenten) Patienten mit geringen oder mittleren Risikofaktoren liegt deren progressionsfreier Verlauf selbst nach 5 Jahren noch bei 100%. Doch so gut diese Ergebnisse sind, so schwierig ist es, sie eindeutig zu bewerten. Und das liegt in diesem Fall zusätzlich daran, dass der Vergleich gegenüber dem "standard of care" keineswegs eindeutig positiv ausfällt. Betrachtet man dort nämlich gesondert (auch) nur die Patienten mit niedrigem Risikoprofil, beträgt deren durchschnittliche progressionsfreie Zeit - je nach Studie variierend - bis zu 15 Jahren. Langzeitüberleben oder gar Heilung? Folgen wir einem der ausgewiesenen klinischen Experten für MCL, Michael Wang (18.08.22 auf Twitter): "After consultation of many senior lymphoma experts whose clinic has long-term survivors, if MCL goes into a complete remission for 15 years, relapse is rarely heard of, one may cautiously say this might be a cure." Fast zu schön, um wahr zu sein... Aber angesichts solcher Verheißungen will man natürlich möglichst sicher sein, dass eine chemotherapiefreie Behandlung auch gleichen Erfolg erzielt.
In einer umfangreichen Phase-3-Studie ("TRIANGLE"), deren Ergebnisse am 11. Dezember auf dem ASH 2022 vorgestellt werden, geht es zwar (noch) nicht um eine chemotherapiefreie Therapie, aber doch um einen nicht zu unterschätzenden Schritt in diese Richtung.
M. Dreyling u.a.: "Efficacy and Safety of Ibrutinib Combined with Standard First-Line Treatment or as Substitute for Autologous Stem Cell Transplantation in Younger Patients with Mantle Cell Lymphoma" (Abstract).
Auch hier wird ein BTK-Inhibitor in der Erstlinie untersucht. Im Unterschied zu den beiden vorher genannten Studien wird Ibrutinib aber im ersten Arm der Studie mit Chemotherapie (R-CHOP/R-DHAP) kombiniert und anschließend - zusammen mit Rituximab - als Erhaltungsdosis gegeben. Um es vorwegzunehmen: dieser Ansatz schlägt sich gegenüber den jeweils Chemotherapie und Stammzelltransplantation enthaltenden zwei weiteren Studienarmen erfolgreich. Und es ist deshalb wohl davon auszugehen, dass Ibrutinib + Immunchemotherapie (etwa R-CHOP/R-DHAP) + R/I-Erhaltungstherapie aufgrund der geringeren Toxizität demnächst Immunchemotherapie + autologe Stammzelltransplantation + R-Erhaltungstherapie als Standardtherapie ablösen dürfte. [Nachtrag vom 2.2.2023: Und so wird es wohl auch tatsächlich kommen. Noch steht eine offizielle Publikation der Studie, die Übernahme in die offiziellen Richtlinien und eine Zulassung durch die EMA aus - aber schon jetzt ist klar: hier handelt es sich um einen "game changer". (Podcast: BTK-Inhibition vs. HD-Therapie beim Mantelzelllymphom. Peter Borchmann im Gespräch mit Martin Dreyling.)]
Ob in einigen Jahren chemotherapiereduzierte oder gar -freie Behandlungsansätze, wohl in jedem Fall in der Minimalkombination eines BTK-Hemmers und eines monoklonalen Antikörpers (etwa: Ibrutinib/Obinituzumab +), zumindest für bestimmte Patientengruppen ein tragfähiges Behandlungsangebot in der Erstlinie darstellen werden, harrt jedoch weiterer Untersuchung.
Studie(n) des Monats: November 2022
Sogenannte "Real-World-Studien" werden - meist länderspezifisch - aus national verfügbaren Datenbanken retrospektiv erstellt. Das unterscheidet sie von "akademischen" - oft auch pharmazieindustriefinanzierten - Studien, die gewöhnlicherweise etwas bessere Ergebnisse liefern, etwa weil die medizinische Betreuung umfangreicher ist, die Teilnehmer einer gewissen Auswahl unterliegen und tendenziell kooperativer sind. Das Interesse "akademischer Studien" ist oft auf eine eng umrissene Fragestellung gerichtet - die ganz allgemeine Frage nach der durchschnittlichen Überlebenszeit mit MCL gehört nicht dazu und kann tatsächlich wohl am ehesten durch "Real-World-Studien" beantwortet werden, auch wenn die hier verfügbaren Datensätze in Teilen unvollständig sind.
Exemplarisch stellen wir die folgende neuere Studie zur Lebenserwartung mit MCL vor: "Evaluating real-world treatment patterns and outcomes of mantle cell lymphoma" von M. Narkhede u.a. (Juli 2022).
Sie bezieht sich auf den Verlauf von mehr als 4000 zwischen 2011-2021 in den USA diagnostizierten MCL-Fällen und richtet ihr Augenmerk vor allem auf Unterschiede im Verlauf von "klassischem MCL" und aggressiveren Varianten (blastisches MCL sowie MCL mit del 17p/mut TP53). Greifen wir zwei Ergebnisse der Studie als Grundlage für weitere Überlegungen heraus: Die mediane Überlebenszeit betrug für MCL-Fälle mit del 17p/mut TP53 42 Monate, für blastisches MCL 26 Monate, in der Kombination beider sogar nur 16 Monate. Demgegenüber lag die mediane Überlebenszeit der Fälle ohne del 17p/mut TP53 bei 75 Monaten, die der nicht-blastischen Fälle bei 80 Monaten. Die mediane Überlebenszeit für die MCL-Fälle ohne die beiden genannten Hochrisikofaktoren wird in der Studie nicht gesondert erwähnt, dürfte jedoch (extrapoliert) bei ca. 84 Monaten, d.h. sieben Jahren, liegen. Aber sehen wir noch einmal genauer hin.
Es fällt auf, dass im verwendeten Datenmaterial der Prozentsatz der 17p/mut TP53 Varianten (5%) an den MCL-Fällen deutlich niedriger liegt als in vergleichbaren akademischen Studien. Tatsächlich sind bei einem Großteil der Fälle aus dem zugrundeliegenden Datenbestand die entsprechenden differenzierenden Untersuchungen (NGS/FISH) überhaupt nicht vorgenommen worden, mit der Konsequenz, eine nicht unerhebliche Menge unidentifizierter (Hoch-)risikofälle der "falschen" Gruppe zuzuschlagen. Hierzu passt auch, dass die "pleomorphe Variante" (3% der Fälle) mit einem der "blastischen Variante" vergleichbaren Risikoprofil in der vorgenommenen Unterteilung einfach als "nicht-blastisch" gewertet wird. Man kann also davon ausgehen, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der "Normalvariante" und Risikovarianten höher ist als in der Studie angegeben.
Aufgrund der eingeschränkten Datenverfügbarkeit ist die Studie auch nicht in der Lage, zwischen "overall survival" und "relative survival" zu unterscheiden. Das "overall survival" (OS) stellt das Überleben dem Tod aus beliebiger Ursache gegenüber, für das "relative survival" (RS) sind nur Todesursachen relevant, die direkt mit der Grunderkrankung (hier: MCL) zusammenhängen. Dieser Unterschied spielt im jüngeren Lebensalter statistisch kaum eine Rolle, bei einer Krankheit wie dem Mantelzelllymphom, wo der Altersschnitt zum Zeitpunkt der Diagnose um die 65 Jahre liegt, schon.. Wenn Studien aber nur das "overall survival" messen, wird "Alter" - ganz krankheitsunabhängig - zu einem der größten Risikofaktoren. Will oder kann man auf das "overall survival" als Endpunkt einer Studie nicht verzichten, würde eine aussagekräftigere Lösung darin bestehen, nach Alter zu differenzieren. Entsprechende Unterteilungen liegen aber für die besprochene Studie leider nicht vor.
Um nur einen Eindruck davon zu geben, wie sich eine Altersdifferenzierung auf die mediane Überlebenszeit auswirkt, greife ich auf eine etwas ältere akademische Studie aus dem Jahre 2019 mit 404 Patienten zurück ("Patterns of survival in patients with recurrent mantle cell lymphoma in the modern era" (6/2019 von Anita Kumar u.a.). Hier wurde retrospektiv die mediane Überlebenszeit (OS) für Patienten unter 65 Jahren bei Diagnosestellung ermittelt. Dabei betrug diese im Fall von Therapien, die (autologe) Stammzelltransplantationen miteinschlossen, 165 Monate und im Mittel aller anderen Therapieformen immerhin noch 120 Monate.
Angemerkt sei lediglich noch, dass die Bezeichnung "modern era" angesichts des Untersuchungszeitraums dieser soeben genannten Studie (2000-2014) etwas euphemistisch wirkt. Bis auf den Einsatz von Rituximab und Stammzelltransplantationen fehlten in dieser Zeit noch nahezu alle heute verfügbaren Mittel aus dem Werkzeugkasten der MCL-Therapie - angefangen mit Rituximab in der Erhaltungstherapie, dem Einsatz von BTK- und BCL-2-Hemmern, von BiTEs oder CAR-T-Zelltherapien. Diese Fortschritte haben sich denn auch im jüngeren Untersuchungszeitraum der "Real-World-Studie" bereits deutlich niedergeschlagen, wenn man die immer wieder zitierte durchschnittliche Überlebenszeit bei MCL von 3-5 Jahren als historischen, d.h. veralteten Bezugspunkt nimmt. Eine Aufschlüsselung nach Alter bei Diagnosestellung hätte die im letzten Jahrzehnt erzielten Fortschritte allerdings noch eindrucksvoller herausstellen können.